Liana Fix ist Publizistin und Politikwissenschaftlerin mit den Schwerpunkten deutsche Außenpolitik, europäische Russlandpolitik und transatlantischen Beziehungen. Sie ist Programmleiterin im Bereich Internationale Politik der Körber-Stiftung. Zudem schreibt sie für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften, wie „Internationale Politik“ oder „Die Zeit“. Liana Fix studierte Geschichte und Internationale Politik in London, Geschichte und Medienwissenschaften in Bochum und Tours, Frankreich. Sie promovierte zum Thema Europäisch-Russische Beziehungen.
Kiew drängt nach Europa
Bei einer Rede im Europäischen Parlament in Straßburg am 8.6.2022 warb Ruslan Stefantschuk, der Stellvertreter von Wolodymyr Selenskyj, inständig um eine Aufnahme der Ukraine in die EU. © picture alliance / Geisler-Fotopress / Dwi Anoraganingrum
Notaufnahme der Ukraine in die EU?
29:44 Minuten
Aus Sicht Kiews ist die Sache klar: Weil sich die Ukraine in Richtung Europa bewegt hat, wurde das Land von Moskau angegriffen. Erwächst daraus eine besondere Verantwortung der EU gegenüber der Ukraine? Muss ein Beitritt in Rekordzeit möglich sein?
"Die Europäische Union hat der Ukraine gegenüber eine 'moralische Verpflichtung', sagt die Politologin und Ost-Europa-Expertin von der Körber-Stiftung, Liana Fix. Das Land kämpfe in dem von Russland begonnenen Krieg nicht zuletzt für europäische Werte. "Die Annäherung an den Westen habe Russland dazu verleitet, diesen schrecklichen Krieg zu starten, um zu verhindern, dass die Ukraine ein Teil der europäischen, der euro-atlantischen Welt wird."
Aus dieser Sachlage erwachse nicht nur eine Verantwortung gegenüber der Ukraine. Es läge auch im Interesse der EU, das Land aufzunehmen, weil es "viel mitbringt". Auch geopolitisch sei eine Aufnahme folgerichtig.
"Besondere Zeiten brauchen besondere Antworten"
Nach Fix' Ansicht befinden wir uns in einer "Zeitenwende". Das bedeute, dass Entscheidungen "schneller getroffen werden können" und auch müssten. Einen Rückzug auf "business as usual" hält sie in der augenblicklichen Situation nicht für angebracht. Dass die Ukraine unverzüglich den Status als EU-Beitrittskandidat bekommt, ist für sie "das Minimum", was nun passieren müsse.
In erster Linie sei die Verleihung des Kandidaten-Status ein "symbolischer Akt" der aber gerade jetzt, "an sich schon unglaublich wichtig" sei, weil er der ukrainischen Bevölkerung "einfach die Kraft weiterzumachen" geben könne. Um eine Notaufnahme, unter Missachtung von Aufnahmekriterien, gehe es nicht.
Es sei auch im wohlverstanden Eigeninteresse der Europäischen Union, dass der Wiederaufbau der Ukraine nach dem Ende von Kriegshandlungen im Rahmen der Verhandlungen im Beitrittsprozess passiere und so zwangsläufig mit inneren Reformen im Land einhergehen müsse. Dass die Ukraine und weitere Länder Teil der Gemeinschaft werden wollten, spreche auch für die Attraktivität der EU als "soft power".
Richtig sei, dass sich der Reformdruck auf die Union erhöhe, wenn sie sich erneut erweitere. Es wäre aber "unfair" gegenüber den Beitrittskandidaten, die Erweiterung deshalb zu stoppen, "weil die EU es nicht schafft, sich selbst zu reformieren", glaubt Liana Fix.
Großes Potential der ukrainischen Zivilgesellschaft
Dass die Ukraine, bevor sie EU-Mitglied werden kann, "einen wahnsinnig langen Weg" vor sich habe, um alle Beitrittskriterien zu erfüllen, sei unumstritten. Beim Aufbau des Rechtsstaats und der Bekämpfung der Korruption habe die ukrainische Zivilbevölkerung aus ihrer Sicht "das größte Potential". Seit der "Orangenen Revolution" 2013 engagiere sich die Bevölkerung für die Zukunft des Landes und mache etwa gegen Wahlfälschungen oder die weit verbreitete Korruption mobil.
Wenig hält Liana Fix von der Idee eines neuen Formats jenseits der Vollmitgliedschaft für die Ukraine, Moldau und Georgien. Das hat der französische Präsident Macron ins Spiel gebracht und es Europäische politische Gemeinschaft genannt. So eine vertiefte Zusammenarbeit wäre nur dann "eine gute Perspektive", wenn es sich dabei erklärtermaßen um eine Vorstufe, also "Teil eines Prozesses" für eine Mitgliedschaft handelte. Als "Endmodell" sei es nicht vorstellbar. Dann entstünde eine "Zweiklassengesellschaft in der Europäischen Union".
(AnRi)