Beck: Janukowitsch ist ein Diktator ohne Legitimität
Die Sprecherin für Osteuropapolitik der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen, Marieluise Beck, sieht den ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowitsch (Partei der Regionen) in einer geschwächten Position und somit Chancen für friedliche Verhandlungen in der Ukraine.
André Hatting: Bürgerkriegsähnliche Zustände in Kiew, die Zahl der Toten liegt jetzt offiziell schon bei 75, wie uns unsere Korrespondentin gesagt hat. Der deutsche und der polnische Außenminister sind immer noch in Kiew, ringen um einen Ausweg aus dieser Krise. Mittlerweile hat sich auch Moskau in diese Gespräche eingeschaltet, Präsident Putin hat seinen Menschenrechtsbeauftragten Wladimir Lukin in die ukrainische Hauptstadt geschickt. Seit Tagen ist auch Marieluise Beck in Kiew. Sie ist die Sprecherin für Osteuropapolitik der grünen Bundestagsfraktion. Guten Morgen nach Kiew, Frau Beck!
Marieluise Beck: Guten Morgen!
Hatting: Die EU hat ja jetzt reagiert und Sanktionen beschlossen. Zu spät?
Beck: Ja, ich glaube, dass wir zu spät reagiert haben. Das hat dazu geführt, dass die politischen Führer, die Oppositionsführer nun fast drei Monate immer wieder mit leeren Händen auf den Maidan gehen mussten. Und das hat ihre Autorität untergraben und das Gefühl bei den Bürgerinnen und Bürgern auf dem Maidan gestärkt, wir müssen selber handeln. Und das hat sicherlich auch mit zu der zunehmenden Wut geführt, die diese Menschen hier hatten.
Hatting: Und wie reagieren die jetzt, nachdem die EU dann endlich reagiert hat?
"Janukowitsch hat keine Mehrheit des Parlaments mehr hinter sich"
Beck: Das Entscheidende ist jetzt nicht die Sanktionen, die persönlichen Sanktionen der EU. Das Entscheidende ist, dass heute Nacht Parteigänger des Janukowitsch-Clans, auch Familienangehörige das Land verlassen haben. Es scheint auch darunter der Parlamentspräsident gewesen zu sein, eine wesentliche Stütze seines Regimes. Und es sind, nachdem um 17 Uhr eine Parlamentssitzung, eine Rada-Sitzung begonnen hat, nach und nach bis zu 20 Abgeordnete der Partei der Regionen zu den Oppositionsabgeordneten dazugestoßen. Und sie gemeinsam haben eine Mehrheit geschaffen, die es möglich gemacht hat zu erklären, dass jegliche Gewalt des Staatsapparates eingestellt wird, dass die Täter bestraft werden, dass die Familien der Opfer entschädigt werden. Und das ist nicht nur gut für die Situation jetzt auf dem Maidan und in anderen Städten, sondern das bedeutet auch, dass Janukowitsch keine Mehrheit des Parlaments mehr hinter sich hat.
Hatting: Glauben Sie, dass diese Beschlüsse dann auch umgesetzt werden können?
Beck: Ich kann nicht vorhersagen, ob die Kräfte des Innenministeriums sich weiter hinter Janukowitsch und den Innenminister stellen werden und weiter Blutvergießen hervorrufen werden. Aber sie würden jetzt ganz eindeutig einen Diktator unterstützen, der keine Legitimität mehr hat. Und ich glaube, das wäre noch mal eine neue Qualität auch in den anderen Städten der Ukraine, in denen es mehr Demonstranten gibt aufseiten der oppositionellen Kräfte, als bei uns wahrgenommen wird, weil wir immer nur nach Kiew schauen.
Hatting: Sie haben gerade die Legitimität von Janukowitsch angesprochen. Ist er denn damit immer noch der richtige Verhandlungspartner für zum Beispiel Bundesaußenminister Steinmeier?
Beck: Das wird sich, glaube ich, erst in den nächsten Stunden und Tagen herausstellen. Ich kann mir nicht mehr vorstellen, wie die Menschen auf dem Maidan und in anderen Städten, die nun über 70 Tote zu beklagen haben, ob sie diesen Präsidenten jemals noch als Präsidenten anerkennen würden. Ich hoffe eigentlich, dass er den Weg frei macht, damit es endlich wieder eine friedliche Lösung, auch Konsenssuche in diesem Land geben kann, eine Abbildung der unterschiedlichen Kräfte und politischen Ausrichtungen, die es in diesem Land gibt.
Kein Kompromiss über die Köpfe der Ukraine hinweg
Hatting: Es wird ja seit Tagen darüber nachgedacht, wer in diesem Konflikt vermitteln könnte. Wer wäre denn Ihrer Meinung nach ein von allen Seiten akzeptierter Vermittler, auch von Russland?
Beck: Es muss ja nicht einer sein. Es hat ja endlich Präsident Putin insofern aufgehört, Öl ins Feuer zu gießen, muss man wohl sagen, indem er seinen Menschenrechtsbeauftragten Lukin auch nach Kiew geschickt hat. Ich kenne Herrn Lukin, er ist ein sehr ehrenwerter Mensch, der ehemalige Menschenrechtsbeauftragte. Und insofern nehme ich das als ein Zeichen, dass auch Wladimir Putin verstanden hat, dass er mit Verantwortung übernehmen muss, um dieses Blutvergießen zu beenden. Und das in der Kombination mit dem polnischen, französischen und deutschen Außenminister ist eine, ich glaube, gute Kombination, die Gewicht hat und die auch zu einem Stück Bewegung führen konnte.
Hatting: Und trotzdem hat Russland ja Angst, dass die Ukraine sich seinem Einfluss entziehen könnte. Wie könnte denn ein Kompromiss jetzt aussehen, um die Gewalt dort zu beenden?
Beck: Es kann nicht um einen Kompromiss zwischen Brüssel und Moskau über die Köpfe der Ukraine hinweg gehen. Der Kompromiss muss sein, dass zunächst einmal anerkannt wird, dass die Ukraine ein souveränes Land ist. Sie hat das Recht, sich auszusuchen, mit welchen Ländern sie welche Verträge schließen möchte, nach beiden Seiten, sowohl nach Russland als auch in Richtung Brüssel. Und es muss auch von einem Wladimir Putin akzeptiert werden, dass er nicht wie mit dem Handelskrieg intervenieren kann, um einen solchen massiven Druck auszuüben, dass diese Freiheit und Souveränität des Landes unmöglich gemacht wird.
Hatting: Marieluise Beck, Sprecherin der grünen Bundestagsfraktion für Osteuropapolitik und derzeit in Kiew. Danke für das Gespräch und alles Gute Ihnen!
Beck: Ich danke Ihnen auch!
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