Blutiger Mittwoch
Nach den ersten tödlichen Schüssen auf Demonstranten in Kiew eskaliert die Gewalt in der ukrainischen Hauptstadt. Radikale Demonstranten und Sicherheitskräfte lieferten sich den ganzen Tag Straßenschlachten, beide Seiten wappnen sich für neue Zusammenstöße in der Nacht.
Brennende Barrikaden, dicker schwarzer Rauch im Zentrum Kiews. Die Zusammenstöße zwischen radikalen Demonstranten und Sicherheitskräften dauerten den ganzen Tag an. Auf der einen Seite Elitepolizisten der Sondereinheit Berkut mit Schilden und Gummiknüppeln. Sie setzten Tränengas und Blendgranaten ein. Auf der anderen Seite vermummte und behelmte Regierungsgegner. Sie warfen Molotow-Cocktails und Steine auf die Sicherheitskräfte.
Und beide Seiten wappnen sich für weitere Zusammenstöße. Aus dem Innenministerium hieß es am Nachmittag, im Stadtzentrum würden sich immer mehr Radikale versammeln und sich bewaffnen, mit Brandsätzen und präparierten Keulen. Vorsorglich genehmigte die Regierung heute den Einsatz von Wasserwerfern auch bei Frost. Bisher war das verboten. In Kiew herrschten tagsüber Temperaturen um zehn Grad unter Null.
Unterdessen wiesen Oppositionelle und Regierungsvertreter einander gegenseitig die Schuld für die Eskalation der Gewalt zu. Am morgen waren zwei Demonstranten Schussverletzungen erlegen. Schnell hieß es aus Oppositionskreisen, Scharfschützen der Polizei hätten geschossen. Irina Geraschtschenko, Abgeordnete der oppositionellen Udar-Partei Witalij Klitschkos, machte Präsident Janukowitsch persönlich für die Gewalt verantwortlich: "Mit dem, was heute passiert ist, ist eine Grenze überschritten. Das ist ein Krieg gegen das eigene Volk. Weder die Polizei noch die Berkut-Einheiten hätten Waffen ohne einen offiziellen Befehl von oben benutzt."
Treffen zwischen Janukowitsch und Klitschko
Behörden- und Regierungsvertreter wiesen die Verantwortung für die Toten zurück. Sergej Burlakow, Sprecher des Innenministeriums der Ukraine: "Die Polizei hält sich extrem zurück und bewegt sich streng im Rahmen des Gesetzes. Sie setzt Schlagstöcke ein, Schilde, Gasgranaten, aber keine Schusswaffen. Derartige Meldungen sind eine Provokation. Die Behauptung, die Polizei bringe Demonstranten um, entspricht nicht der Wahrheit."
Oleg Tsarjow, stellvertretender Vorsitzender der regierenden Partei der Regionen, ging noch weiter. "Ich halte es für möglich, dass andere als Polizisten geschossen haben. Unseren Erkenntnissen nach legt es die Opposition darauf an, dass es Todesopfer gibt."
Von offizieller Seite wird einiges getan, um die Protestierenden pauschal zu kriminalisieren. Präsident Janukowitsch sprach den Angehörigen der Getöteten sein Beileid aus und sagte dabei, ihr Tod sei von, so wörtlich, „Extremisten im Auftrag der Politik provoziert“ worden.
Allerdings ließ sich Janukowitsch heute auf ein Treffen mit Oppositionsvertretern ein. Zuvor waren mehrere Gesprächsanläufe gescheitert. Witalij Klitschko, Arsenij Jazeniuk von der Vaterlandspartei und Oleg Tjagnibok von der nationalistischen Freiheitspartei trafen Janukowitsch am Nachmittag in der Präsidialverwaltung.
Die Opposition fordert eine politische Lösung der Krise. Die Abgeordnete Irina Geraschtschenko von der Udar-Partei: "Wir haben eine große politische Krise. Man kann sie nur politisch lösen. Wir bestehen darauf: Die Regierung muss zurücktreten. Innenminister Zachartschenko gehört vor Gericht, denn er hat die Eskalation so weit voranschreiten lassen. Und weiter brauchen wir vorgezogene Parlaments- und Präsidentenwahlen. Wir bestehen auf einer Rückkehr zur Europäischen Integration."