Die Krise als Prüfstein für den Westen
Polen verfolge den Konflikt in der Ukraine mit großer Besorgnis, sagt Janusz Reiter, ehemals polnischer Botschafter in Deutschland. NATO und EU müssten ihre Autorität erhalten, sonst werde sie keiner mehr ernst nehmen.
Ute Welty: Als es noch um Fußball ging, konnte die gemeinsame Grenze zwischen Polen und der Ukraine gar nicht lang genug sein. Im Sommer 2012 richteten die beiden Länder gemeinsam die Europameisterschaft aus. Im Vorfrühling 2014 geht es nicht nur um die schönste Nebensache der Welt, sondern um essenzielle Fragen wie staatliche Souveränität, militärische Präsenz und letztendlich auch um die von Krieg und Frieden. Da wünscht sich so mancher, es gebe gar keine Grenze zwischen Polen und der Ukraine! Wie sich das Verhältnis zwischen den Nachbarländern verändert, davon kann uns berichten Janusz Reiter, Gründer des Zentrums für Internationale Beziehungen in Warschau. Guten Morgen!
Janusz Reiter: Guten Morgen!
Welty: Erst marschieren die Russen in der Ukraine ein und dann in Polen. Wie sehr treibt diese Angst die Polen derzeit um?
Reiter: Es ist keine Angst, aber Sorge. Ich glaube, von tiefer, großer Sorge, Besorgnis kann man schon sprechen. Und ich glaube, das ist für viele das erste Erlebnis seit '89, wo sie merken: Der Frieden, den man so sehr genießt, ist nicht für immer gegeben. Eine Bedrohung ist plötzlich sichtbar, real geworden. Also, man kann, wie gesagt, noch von keiner Angst sprechen, aber ich glaube, die Ereignisse in der Ukraine bringen viele Menschen zum Nachdenken.
Abgesehen davon, dass man in Polen, glaube ich, die Ukraine doch besser kennt als in den meisten anderen Ländern, auch weil es in Polen Tausende, wahrscheinlich Hunderttausende von Ukrainern gibt, die dort leben.
Welty: Und weil die Geschichte zwischen den beiden Ländern ja eine fürwahr komplizierte ist über die Jahrhunderte.
Reiter: Stimmt. Aber die Versöhnung zwischen diesen Völkern in den vergangenen Jahrzehnten gehört zu den großen Erfolgen Europas, die vielleicht zu wenig bekannt sind in dem westlichen Teil von Europa.
Welty: Könnte die gegenwärtige Situation den Erfolg zunichte machen?
Reiter: Nein, das glaube ich nicht. Ich glaube, die Krise bringt diese beiden Völker eigentlich noch enger zusammen und hat geführt zu einer Solidarität mit der Ukraine, die, ich glaube, ihresgleichen sucht in Europa. Und hat auch in der Ukraine selbst die Gewissheit vertieft, bestätigt, dass Polen auf der Seite der Ukraine steht.
"Heute ist Polen ganz woanders und die Ukraine ist eben, wo sie ist"
Welty: Aber es gibt ja sehr viele Unterschiede: Polen ist vollwertiges Mitglied der NATO, die Ukraine nicht, und auch der russische Anteil in der Bevölkerung ist in Polen sehr viel geringer als in der Ukraine. Inwieweit spielen diese Fakten in der Diskussion eine Rolle?
Reiter: Es gibt in Polen praktisch keine russische Minderheit. Es gibt viele Unterschiede, Polen ist in der NATO, in der Europäischen Union, das stimmt. Vor 25 Jahren war das anders, da waren auch große Unterschiede, die Ukraine war damals noch Teil der Sowjetunion, Polen war ein formell souveränes Land. Aber wenn man sich so die Ausgangslage in den Jahren '90/'91 anschaut, zumindest wirtschaftlich war sie vergleichbar in den beiden Ländern!
Heute ist Polen ganz woanders und die Ukraine ist eben, wo sie ist. Und die Ukrainer wissen das auch und deshalb akzeptieren sie nicht mehr die Lebenssituation, auf die sie, wie manche sagen, angewiesen sind. Ich glaube, aus dieser Ablehnung der Hoffnungslosigkeit heraus ist diese ganze Revolution entstanden.
Welty: Bleiben wir noch mal einen Moment bei der NATO: Polen hat sich ja intensiv auch an die NATO gewandt, die aber bislang eher verhalten reagiert. Spüren Sie da so etwas wie Enttäuschung?
Reiter: Nein, keine Enttäuschung. Wenn die NATO und vor allem wenn die Europäische Union hilflos sind, ratlos sind, dann ist Polen Teil davon. Man kann nicht sagen, die Polen wissen am besten, was zu tun wäre und der Rest will nicht folgen, nein. In dem Erfolg, aber auch in der Ratlosigkeit ist Polen Teil der Europäischen Union. Und ich glaube, die Sorge ist aber auch, wenn sich die Europäische Union in dieser Situation nicht bewährt, dann geht ein Stück Vertrauen in diese Europäische Union verloren. Und das kann man dann nicht einfach wieder reparieren.
Das, was jetzt geschieht, wird die Wahrnehmung sowohl der NATO als auch noch mehr der Europäischen Union für lange Zeit prägen. Entweder werden die Hoffnungen bestätigt, oder aber das Misstrauen wird bestätigt.
Welty: Ist es auch Zeichen der polnischen Hilflosigkeit, dass zum Teil eine sehr kräftige Sprache, ein sehr kräftiges Vokabular bemüht wird? Der Außenminister vergleicht Russland mit einem Raubtier, das durchs Fressen immer mehr Appetit bekommt, und Ihr Ministerpräsident spricht von einem Konflikt, der einen Krieg auslösen könnte, der alle Staaten der Welt betreffen würde. Ist das die Sprache, die hilft, die Situation zu entspannen?
Reiter: Derselbe Ministerpräsident sagt gerade gestern: Keine Muskelspiele!
Polen bemüht sich um Bewältigung der Krise
Welty: Aber das konterkariert das Ganze doch!
Reiter: Nein. Ich glaube, wenn Sie die ganze polnische Politik in dieser Frage verfolgen, dann unterscheidet sie sich nicht im Inhalt wesentlich von der anderer europäischer Länder, insbesondere nicht von der deutschen Politik. Polen ist näher an der Ukraine, insofern ist es schon verständlich, dass dieses Thema in Polen noch stärker präsent ist und vielleicht auch emotionaler ist. Aber Polen hat nichts getan, was zu einer Eskalation der Krise beitragen könnte, im Gegenteil.
Polen bemüht sich im Einvernehmen oder zusammen mit Deutschland und Frankreich insbesondere, aber auch anderen Ländern, um eine Bewältigung der Krise. Nein, die Stimmung ist überhaupt nicht die, dass man jetzt Muskelspiele spielen wollte. Ich glaube, jedermann versteht, das ist eine wirklich sehr ernste Situation und jeder Schritt, den man macht, der muss sehr genau überlegt werden.
Welty: Sie waren lange Zeit Botschafter in Deutschland und auch in den USA. Aus Ihrer großen Erfahrung heraus: Wie viel Zeit bleibt noch, bis sich das diplomatische Fenster zu schließen beginnt?
Reiter: Die eine Bemühung muss darauf ausgerichtet sein, die volle Souveränität der Ukraine wiederherzustellen. Die andere Bemühung ist die, den Konflikt zu isolieren und zu verhindern, dass er weitere Teile der Ukraine verhindert. Und die dritte Bemühung muss, glaube ich, auch sein, in all den von mir früher genannten Bemühungen die Autorität der NATO und der Europäischen Union und vor allem die Einheit dieser beiden Gemeinschaften, Organisationen zu erhalten. Das ist ein sehr kostbares Gut. Wenn wir in dieser Situation scheitern, dann wird uns niemand in der Welt ernst nehmen und dann werden wir auch die Selbstachtung verlieren.
Welty: Sagt Janusz Reiter, Gründer des Zentrums für Internationale Beziehungen in Warschau. Ich danke sehr für dieses Gespräch!
Reiter: Vielen Dank!
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