"Ein neuer politischer Raum"
Schichtdienste auf den Barrikaden, ältere Frauen, die Molotowcocktails zubereiten und staatsunabhängige Kliniken: Die ukrainische Autorin Kateryna Mishchenko berichtet vom Leben auf dem zentralen Protestplatz von Kiew.
Ulrike Timm: Seit zwei Monaten sind sie auf dem Maidan, Zehntausende Menschen bei Regen, Eis und Schnee. Und wenn der durch Präsident Janukowitsch gestoppte europäische Kurs der Ukraine der Anlass der Proteste war, so geht es längst um viel Grundsätzlicheres: um das Selbstverständnis von Menschen in einem Staat, der ihnen die Freiheit raubt. Die Demonstranten bestehen zum Beispiel auf einer Verfassungsänderung, der Präsident soll umfassende Rechte, die sich Janukowitsch 2010 handstreichartig gab, wieder abgeben. Inzwischen sieht der Präsident wohl, dass er mit dem Aussitzen der Lage nicht weiterkommt. Die Proteste haben das ganze Land erfasst und nicht nur die Hauptstadt, aber ihr Zentrum, das ist nach wie vor dieser große Platz in Kiew, der Maidan. Wie es dort zugeht, das kann uns Kateryna Mishchenko erzählen, Autorin und Herausgeberin der Literaturzeitschrift "Prostory" in Kiew. Wir erreichen sie in Wien, aber bis vor zwei Tagen stand sie eben mit auf diesem zentralen Platz in Kiew, dem Maidan. Guten Morgen, Frau Mishchenko.
Kateryna Mishchenko: Guten Morgen.
Timm: Wenn da seit zwei Monaten Zehntausende versammelt sind, dann kann man eigentlich nicht mehr sagen, die stehen auf dem Platz. Dann muss man wohl eher sagen, die leben auf dem Platz, oder?
Mishchenko: Ja genau. Der Maidan hat sich zwischenzeitlich entwickelt und ich würde sagen, das ist nicht einfach ein Ort, sondern es ist ein neuer politischer Raum, den die Menschen selbst geschafft haben. Und zwar haben sie sich organisiert und leben sehr organisiert auf dem Maidan, und sie haben eine eigene Infrastruktur, sogar eine eigene Kultur, eine eigene Kleidermode. Gleichzeitig versuchen sie, auch anders zu denken, und stellen sich selbst als politische Subjekte vor, als diejenigen, die die Opposition jetzt bei ihren Entscheidungen beeinflussen können und auch Druck machen können und müssen, damit die Entscheidungen getroffen werden, die vor allem für die Menschen eine Rolle spielen würden.
Ich glaube, beim Maidan ist selbst auch der Prozess sehr wichtig, weil die Menschen den öffentlichen Raum neu erlebt haben und endlich gespürt haben, dass das Stadtzentrum und überhaupt die Stadt den Menschen dienen kann und nicht den Reichen mit ihren Boutiquen in der Hauptstraße oder mit den Autos, die in Kiew auch im Zentrum überall ganz brutal geparkt werden.
Timm: Wie sieht das genau aus? Sie beschreiben ja so eine Art Stadt in der Stadt mit diesem Platz.
Mishchenko: Ja.
Timm: Wie lebt man da? Infrastruktur, eigene Codes, eigene Kultur – beschreiben Sie uns das doch mal ein bisschen genauer.
Schichtdienste, besetzte Häuser und Duschkabinen
Mishchenko: Ja. Sie wissen wahrscheinlich, dass es besetzte Häuser gibt, und sie haben eine ganz praktische Funktion. Da übernachten die Protestierenden. Sie sind auf dem Maidan schichtweise da, sie stehen sozusagen schichtweise oder stehen auf den Barrikaden und passen auf die Grenzen des Maidan auf, und dann übernachten sie zwar in diesen besetzten Häusern. Da gibt es auch Mensen, da gibt es eine Bibliothek, es gibt auch einen Kino-Club, es gibt jetzt auch die Duschkabinen, also endlich können die Protestierenden ganz normal sozusagen duschen und leben. Es gibt zwischenzeitlich auch eine selbst organisierte Klinik, wo die Menschen operiert werden können, weil es gefährlich ist, die Verletzten vom Maidan in die staatlichen Krankenhäuser zu bringen, denn da werden sie sofort von der Polizei erwischt.
Timm: Der Schriftsteller Juri Andruchowytsch, der meinte bei uns kurz vor Weihnachten, die Kiewer hätte er noch nie so erlebt, die seien wie die Schweizer, so ordentlich. Er sprach auch von dieser organisierten Struktur auf dem Maidan. Aber das Zentrum ist dann doch wohl der Protest?
Mishchenko: Ja, auf jeden Fall.
Timm: Und wie ist das? Wie verbindet sich das? Sie beschreiben so eine kleine Stadt in der Stadt. Das klingt gar nicht unfröhlich, was Sie da sagen, eigene Mode und so, und gleichzeitig will man eine Regierung absetzen. Wie verbindet sich das?
Mishchenko: Genau! Aber ich glaube, diese Kultur, die ist auch ein Teil von dem politischen Prozess. Die Menschen sind gerade dabei, ihre eigene Sprache zu entwickeln, und sie können auch nicht 24 Stunden am Tag protestieren, sie brauchen auch ein bisschen Ausruhe und einen Raum für die Reflexion. Das haben sie natürlich nicht so viel, aber ich glaube, das ist ihr ganz natürliches Bedürfnis. Gleichzeitig sind natürlich alle sehr politisiert und diskutieren, am Feuer stehend, über das Assoziierungsabkommen, über Russland, über Janukowitsch, und sie sind alle darin einig, dass sie so einfach nicht gehen, dass sie so lange auf dem Maidan bleiben, bis sie …
Timm: … bis sie etwas erreicht haben.
Mishchenko: Ja, ja.
Timm: Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton“ – wir sprechen mit der Kiewer Autorin Kateryna Mishchenko. Sie hat auf dem Maidan mitdemonstriert und erzählt uns davon. – Nun gibt es mittlerweile Gewalt. Es hat Tote und Verletzte und Gefolterte gegeben, und auch ein Oppositionspolitiker wie Vitali Klitschko sagt ganz offen, er könne nicht garantieren für die Friedlichkeit aller Demonstranten. Wie haben Sie das selbst erlebt? Wie geht man unter den Demonstranten auf dem Maidan mit dieser Frage um, ob man immer friedlich bleibt, oder gegebenenfalls selbst Steine oder Molotowcocktails zurückwirft?
Mishchenko: Ja, das ist eine schwierige Frage, und ich glaube, das ist eine der wichtigsten Fragen vom Maidan. Wie Sie sich vielleicht erinnern, hat der Staat sozusagen mit der Gewalt angefangen, und zwar am 13.11., wo die Studenten in der Nacht von der Polizei geschlagen wurden, und so hat der Staat oder die Regierung die Gewalt als politisches Instrument genutzt. Es hat dann auch eine sehr große Spannung gebracht und die Menschen haben doch entschieden, friedlich zu protestieren, und so haben sie zwei Monate protestiert.
In diesen zwei Monaten haben sie gar nichts erreicht, es wurde keine Entscheidung getroffen, es wurden keine Schritte vom Staat gemacht. Es war sogar noch schlimmer: dann wurden diese diktatorischen Gesetze verabschiedet. Das waren explizit alles Gesetze, die gegen Euro-Maidan geschrieben wurden. Alles, was die Zivilgesellschaft ausmacht und den friedlichen öffentlichen Protest, das war alles sozusagen gegen Gesetz, und manche von den Vorschriften waren noch brutaler als in Russland. Dieses Gesetz wurde sofort ausgeübt, …
Timm: … es kam sofort zur Anwendung.
Bürgerliche Gewalt: Steine und Molotowcocktails
Mishchenko: Genau! Die ersten Menschen waren schon vor Gericht, einfach für den Protest, und dann gab es diese Steine und Molotowcocktails, was mich auch total überrascht hat und ehrlich gesagt auch gefreut hat. Wir hatten eine radikale Gruppe in der Avantgarde, aber eigentlich haben sich alle Bürger da engagiert. Ich habe die älteren Damen gesehen, die die Molotow-Cocktails sozusagen zubereitet haben für die Jungs, und viele, die mitgeholfen haben, die Glasflaschen mitgebracht haben, und manche Männer, die sagen, wir haben nichts mehr zu verlieren, Janukowitsch hat uns alles genommen, wir haben nicht so viel und wenn wir nach Hause kommen, dann werden wir wahrscheinlich festgenommen, und sie haben einfach die Steine genommen und geworfen.
Timm: Und das ist ja auch eine erste Forderung der Demonstranten, dass die Festgenommen, insbesondere Studenten, von denen man auch meint, dass viele von ihnen gefoltert wurden, erst mal frei kommen.
Mishchenko: Ja.
Timm: Trotzdem ist die Situation, die Sie beschreiben, ja auch eine festgefahrene. Sie stehen da seit zwei Monaten auf dem Platz, Janukowitsch bewegt sich wenn, dann millimeterweise, und ob er das wirklich so meint, da hat auch niemand recht Vertrauen, und die Situation eskaliert ja zunehmend auch auf der Seite der Demonstranten. Welches wäre denn ein erster Schritt, ein Zeichen, um aus dieser festgefahrenen Situation auch wieder schrittweise herauszukommen?
Mishchenko: Der Maidan hatte immer seine Forderungen und jetzt ist eine der ersten, dass alle Menschen frei werden müssen. Janukowitsch seinerseits redet von der Amnestie, aber das ist eine falsche Wortverwendung, denn diejenigen, die im Gefängnis sind, haben nichts gemacht. Es sind zufällige Menschen, die irgendwo, nicht weit vom Maidan gefasst wurden, die Studenten, die irgendwo im Stadtzentrum spaziert haben zum Beispiel, und sie waren ohne Gericht ins Gefängnis geworfen. Janukowitsch hat quasi seine Geiseln und sagt uns jetzt, ich kann euch Amnestie anbieten, aber das ist eine reine verbrecherische Erpressung.
Was ich noch sagen wollte zu der Gewalt, was sehr wichtig ist: Als Antwort auf diese bürgerliche Gewalt kam eine unglaublich vielschichtige Gewalt seitens des Staates. Es gibt jetzt Repressionen auf unterschiedliche Weise, diese Gefängnisse, Gerichte, es gibt aber auch Entführungen, es gibt Folter, es gibt auch die ersten Toten, und es wird immer fortgesetzt. Es gibt jetzt einerseits diese Verhandlungen auf der Abgeordnetenebene, auf der Parlamentsebene, aber jeden Tag kommen die Meldungen, dass jemand verschwunden ist, nicht nur in Kiew, aber auch in anderen Städten, wo die Menschen protestiert haben. Und die jetzigen, die jetzt immer in Untersuchungshaft sind oder in Krankenhäusern sind, sind sie sehr geschlagen und viele Menschen sind blind geworden und ich glaube, etwa 140 Journalisten sind in diesen Tagen verletzt worden.
Timm: Das heißt aber auch, solange dieser Präsident an der Spitze steht, bewegt sich rein gar nichts?
Mishchenko: Ja. Wenn ich ja sage, dann vertrete ich auch die Meinung vom Maidan.
Timm: …, meint Kateryna Mishchenko, die Autorin, die bis vor zwei Tagen auf diesem Platz mitdemonstriert hat. Wir haben sie in Wien erreicht. Vielen Dank fürs Gespräch, Frau Mishchenko.
Mishchenko: Ja, danke Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.