Ukraine

Erler: "Ich hoffe sehr, dass es nicht kippt"

Gernot Erler im Gespräch mit Ute Welty · 22.02.2014
Gernot Erler (SPD), Russland-Beauftragter der Bundesregierung, mahnt die sofortige Umsetzung des Abkommens zur Überwindung der Krise in der Ukraine an. Die Opposition müsse sich an einer Übergangsregierung beteiligen.
Ute Welty: Und dann ging es Schlag auf Schlag: Regierung und Opposition in der Ukraine unterzeichnen ein Friedensabkommen, die Freilassung von Julia Timoschenko wird vorbereitet, und Präsident Janukowitsch hat offenbar Kiew verlassen aus Angst vor der Erstürmung seines Palastes.

All das hat intensiv verfolgt auch der SPD-Außenpolitiker Gernot Erler, Russlandbeauftragter der Bundesregierung. Guten Morgen!
Gernot Erler: Guten Morgen, Frau Welty!
Welty: Wie beurteilen Sie die Lage heute Morgen? Besteht wirklich Hoffnung auf Frieden?
Erler: Ich würde es nicht Frieden nennen, aber es besteht Hoffnung, dass es eine politische Lösung gibt, die eigentlich, wenn man sie verfolgt, tatsächlich rausführen kann aus der Krise. Bloß leider ist zu befürchten, weil sich auch Gegner von dieser Lösung gemeldet haben, dass die Anwendung von Auseinandersetzungen mit Gewalt noch nicht völlig beendet ist.
Welty: Teile der Opposition haben ein Ultimatum gestellt: Bis heute Vormittag soll Präsident Janukowitsch zurücktreten. Befürchten Sie, dass an dieser Stelle die Sache noch mal kippt?
Gernot Erler, ehemaliger Staatsminister im Bundesaußenministerium (SPD)
Der SPD-Außenpolitiker Gernot Erler© Deutschlandradio - Bettina Straub
Erler: Na, ich fürchte, dass es noch mal zu Auseinandersetzungen kommt, aber ich hoffe doch sehr, dass es nicht kippt, denn ich meine: Das sind jetzt die Kräfte, die schon die ganze Zeit nicht integrierbar waren in diesen ganzen Prozess, der darauf hinauslief, zu versuchen, eine Verhandlungslösung zu finden und damit aus der ausufernden Anwendung von Gewalt herauszukommen.
Das ist dieser sogenannte "Prawyj Sektor", der "Rechte Sektor" von extrem nationalistischen Kräften, die also von vornherein auch bereit waren, Gewalt anzuwenden, und die zu einem wesentlichen Teil auch dieses Bild der gewalttätigen Auseinandersetzungen geprägt haben, zusammen eben mit den radikal vorgehenden Sicherheitskräften des Regimes.
Welty: Wer kann diese Kräfte einfangen?
Erler: Man kann sie nur isolieren. Man kann nur deutlich machen, dass die Bevölkerung nicht dahinter steht und dass sie dann eben damit rechnen müssen, dass die Sicherheitskräfte auch gegen sie eingesetzt werden.
Welty: Präsident Janukowitsch hat Neuwahlen angekündigt. Wird er sich daran halten, und welche Garantien gibt es dafür?
Erler: Es gibt keine Garantien, aber ob die Sache umgesetzt wird oder implementiert wird, das ist jetzt eine ganz entscheidende Frage, und das beginnt ja schon heute, denn der Punkt eins hieß ja, dass innerhalb von 48 Stunden im Grunde genommen die alte Verfassung von 2004 wieder hergestellt wird per Gesetz, also vorläufig wieder in Kraft gesetzt wird mit einer stark beschnittenen Rechtesituation des Präsidenten. Da muss die Werchowna Rada praktisch in den nächsten Stunden zusammentreten und das machen.
Welty: Das Parlament, das ukrainische.
Papier ist geduldig
Erler: Ja, das ist das ukrainische Parlament. Und dann muss es in den nächsten zehn Tagen die Bildung einer Regierung der nationalen Einheit, also einer Übergangsregierung geben. Das wäre natürlich wichtig, dass jetzt sofort die Bevölkerung merkt, das wird jetzt auch angegangen, das wird jetzt auch umgesetzt, damit das Vertrauen hier wächst in die Gültigkeit dieses Abkommens, denn das ist ein großes Problem: Wenn natürlich sich große Teile der Bevölkerung, - wenn die das Gefühl haben, es wird überhaupt nichts gemacht, es ist nur ein Papier, und auf dem Papier kann viel stehen, Papier ist geduldig, dann kommen wir in die nächste kritische Situation.
Welty: Wie muss diese Übergangsregierung aufgestellt sein und welche Rolle trauen Sie dem bisherigen Oppositionsführer Vitali Klitschko zu?
Erler: Vitali Klitschko wird sicherlich hier eine Rolle spielen müssen. Also ich meine, das Ganze ist ja ein Kompromiss. Ursprünglich waren auch die, sage ich mal, nicht radikalen Oppositionsparteien mit dem Ziel angetreten, dass der Präsident auf jeden Fall zurücktreten muss.
Das soll jetzt so passieren, dass es eine vorgezogene Präsidentenwahl bis spätestens Dezember dieses Jahres geben soll, das ist ein Kompromiss, zusammen mit den anderen Punkten - und ein Kompromiss ist eben nicht 100 Prozent. Und das ist klar, dass dazugehört, dass jetzt die Opposition sich auch an einer solchen Übergangsregierung beteiligt, sonst macht dieser ganze Kompromiss gar keinen Sinn. Ein Teil der Verantwortung muss von der Opposition übernommen werden. Dann kann man auch die anderen Punkte umsetzen.
Welty: Wenn Sie sich die letzten Tage noch mal vor Augen führen: Ab wann haben Sie damit gerechnet, dass sich Regierung und Opposition in der Ukraine aufeinander zubewegen können?
Umdenken in Moskau
Erler: Es hat ja eine Zeit lang so ausgesehen, als ob die das auch alleine schaffen, denn immerhin, ich meine, es ist noch nicht viele Tage her, wo man sich auf eine Regelung geeinigt hat, dass zum Beispiel alle festgenommenen Demonstranten, immerhin 268, freigelassen werden, wenn Zug um Zug dafür bestimmte Gebäude, unter anderem das Rathaus in Kiew und das Hauptquartier der Opposition, da geräumt wird.
Das ist dann auch unter der Beobachtung und Vermittlung der OSCE, der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, passiert. Und da sah das eigentlich schon sehr gut aus, dass man gar keine große internationale Vermittlung braucht. Aber dann kam dieser schreckliche Dienstag, wo es viele Tote gab und wo schreckliche Kampfszenen in Kiew stattgefunden hatten, und dann war diese ganze Hoffnung zerstört, und das war dann die Stunde, wo die Vermittler aufgetreten sind, wo glaube ich in kluger Weise die EU diese Außenminister des sogenannten Weimarer Dreiecks, also von Deutschland, Polen und Frankreich, nach Kiew geschickt haben, und es war auch gut, dass dann offenbar in Moskau ein Umdenken stattfand: Da sprach man bis dahin von Staatsstreich, und dann hat man aber doch auch einen eigenen Vermittler geschickt, einen sehr angesehenen, Wladimir Lukin, der bisher der Menschenrechtsbeauftragte des russischen Präsidenten war. Und in dem Zusammenwirken dann von diesen Vermittlern hat es dann dieses Agreement gegeben zur Krisenbewältigung, was jetzt die Grundlage aller unserer Hoffnungen ist.
Welty: Ursache des Konfliktes ist ja gewesen, dass sich die Ukraine entscheiden wollte, oder musste zwischen einer Annäherung an die EU und eine an Russland. Hat sich diese Gemengelage jetzt entscheidend verändert oder bleibt dieses Konfliktpotenzial bestehen?
Erst mal müssen die Waffen schweigen
Erler: Nein, ich meine, das war auch gar nicht zu erwarten oder zu hoffen, dass etwa diese Frage, die ja übrigens nicht nur die Ukrainer angeht, sondern auch noch andere Länder der sogenannten öffentlichen Partnerschaft, etwa Georgien und Moldova, die praktisch ähnliche Assoziierungsabkommen ausgehandelt haben, also diese Frage, wie das in dieser Region weitergehen soll mit der EU-Annäherung beziehungsweise der Zusammenarbeit mit Russland, das ist eine offene Frage weiter. Und die kann man im Grunde genommen eigentlich erst wieder angehen - und das wird dann auch sicher in Gesprächen zwischen EU und Russland passieren müssen -, wenn die aktuelle Krise gelöst ist.

Also man muss doch jetzt den Vorrang akzeptieren, dass erst mal die Waffen schweigen müssen, dass erst mal aufgeräumt wird wieder, dass Kiew wieder eine normal funktionierende Stadt werden muss und dass eben auch die schwierigen Situationen in den anderen Provinzen der Ukraine bereinigt werden müssen, hoffentlich auf der Basis dieser politischen Lösung. Und dann erst wird man die sogenannte Zukunftsfrage lösen können, nämlich: Wie sieht die Orientierung dann aus und gibt es vielleicht eine Möglichkeit, diese beiden Integrationsangebote, die von der EU wie die von Moskau in irgendeiner Weise kompatibel zu machen? Daran wird man arbeiten müssen.
Welty: Eins nach dem anderen, auch in der Ukraine, sagt der Russlandbeauftragte der Bundesregierung. Mein Dank geht an Gernot Erler!
Erler: Ich danke Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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