Wenn der Urlaub zur Flucht wird
Mary und Yarik sind mit ihren Kindern auf dem Weg nach Berlin, als die russische Armee ihre Heimat überfällt. Sollen sie in Deutschland bleiben, in Sicherheit? Oder zurück in die Ukraine? Die Familie trifft eine schwere Entscheidung.
Sie sitzen im Auto auf dem Weg nach Berlin, als sie die Nachricht hören: Die russische Armee ist auf breiter Front in ihre Heimat eingefallen. Heimat: Für Mary, Yarik und ihre Kinder Myroslaw und Zoriana ist das Winnyzja in der Zentralukraine.
Winnyzja ist hübsch. Schön grün, eher ruhig. Rund 370.000 Menschen leben hier. Auf den Straßen fahren blauweiße Tramwagen, es gibt elegante Altbauten, eine moderne Verwaltung. Normalerweise ist Winnyzja eine Stadt mit viel Lebensqualität. Aber normal ist nichts mehr seit dem 24. Februar 2022.
Es gab Zeichen: die Satellitenbilder. Die vielen russischen Trucks, die sich der Grenze näherten. Aber offizielle Stellen beruhigten bis zuletzt: Das Volk solle sich keine Sorgen machen.
Mary unterhält sich in den Wochen vor dem Überfall mit ihren Freundinnen und Freunden darüber. Eine von ihnen erzählt, dass sie Geld angelegt hat, und fragt Mary: Sollte sie das nicht lieber gleich wieder abheben? „Und ich habe gefragt, ob sie Witze macht, oder ob sie etwa wirklich glaubt, dass ein Krieg kommen wird,“ erzählt Mary ein Jahr später. Was dazwischen geschah, davon handelt diese Geschichte.
Durch Zufall auf dem Weg nach Berlin
Mary, Yarik und die Kinder haben Glück: Als der Krieg da ist, sind sie es nicht. Die Familie ist in Krakau, will weiter nach Berlin. Genau einen Tag vor der Invasion sind sie aufgebrochen.
Beide Eltern arbeiten in der Jugendhilfe. In Deutschland wollen sie eine Konferenz besuchen. Und ein bisschen Urlaub machen. Im Moment des großen Chaos haben sie etwas, was vielen anderen fehlt: einen Anlaufpunkt. Eine Unterkunft. Der Zufall hat ihnen geholfen.
Eine ukrainische Familie
"Hauptsache zusammen"
12.02.2023
39:23 Minuten
„Wären wir zu diesem Zeitpunkt auf ukrainischem Territorium gewesen, wären wir vielleicht gar nicht weggegangen“, erzählt Yarik. Aber damals, im Februar 2022, sind sie in Krakau und entscheiden sich, wie geplant nach Berlin zu fahren. Vorerst.
Von Zuhause erreichen die Familie viele Nachrichten. Yarik plagen Schuldgefühle. Ständig überlegt er, was er tun kann. Er ist verwirrt und wütend, gleichzeitig voller Energie. „Diese Energie musste irgendwie raus. Ich konnte kaum schlafen. Oft nur ein, zwei Stunden pro Nacht. Ich war sehr gestresst, regelrecht paranoid. Ich fragte mich, was meine Aufgabe hier war, und was ich persönlich tun konnte.“
Zurück in die Ukraine
Yarik trifft eine radikale Entscheidung: Er geht zurück. Allein. Ohne seine Frau und die beiden Kinder. „Obwohl ich nicht wirklich verstand, was zu tun war, war ich bereit zu allem Möglichen, bereit zu leiden, wie unsere Leute in der Ukraine litten.“
Yarik und Mary ist klar: Wenn er jetzt zurückgeht, kommt er so schnell nicht wieder zurück. Ukrainische Männer zwischen 18 und 60 Jahren dürfen das Land wegen des Krieges nicht mehr verlassen. Aber Yarik versucht sich und Mary einzureden, dass es erst einmal nur für ein paar Wochen ist. Vielleicht ist der Krieg ja schon bald wieder vorbei?
Im März 2022 spielen sich chaotische Szenen an den ukrainischen Grenzen ab. Millionen Menschen wollen raus aus dem Land. Yarik ist einer der wenigen, die in die andere Richtung fahren: rein. Winnyzja liegt weit entfernt von der Front. Aber Luftangriffe gibt es überall.
Yarik will nicht kämpfen, aber helfen
Mary ist nicht wirklich einverstanden mit Yariks Entscheidung. Doch sie lässt ihn gehen. Auch sie hat Hoffnung, dass der Krieg schnell vorüber ist. In drei Wochen vielleicht? Vier? In zwei Monaten? „Je länger es dauerte, umso mehr verschwand diese Hoffnung“, sagt sie.
An Yariks zweitem Tag zurück in Winnyzja wird der Fernsehturm von einer Bombe getroffen. Der Angriff kommt mitten in der Nacht. Den Alarm hört Yarik nicht, aber die Explosion. Von seinem Fenster aus sieht er die Flammen. Yarik rennt ins Badezimmer. Hinter zwei bis drei Mauern ist es halbwegs sicher, heißt es. „Nicht alle können immer in den Keller gehen“, sagt Yarik. „Dafür sind es zu viele Menschen.“
Yarik will nicht kämpfen. Yarik will helfen. Eine militärische Ausbildung hat er nicht. Zu Hause kümmert er sich erstmal um die Familie, Freunde, die Wohnung. Später organisiert er Benefiz-Konzerte. Das Geld geht an freiwillige Streitkräfte, an medizinische Einrichtungen und Vertriebene.
Ein bisschen Normalität für die Kinder
In Berlin hilft auch Mary, wo sie kann. Doch es fällt ihr schwer. Sie versucht sich von dem, was um sie herum passiert, abzugrenzen. „Es gab zwei verschiedene Realitäten: die in meinem Herzen und die da draußen, in der ich sah, was die Leute machten, wie sie ihr Leben weiterlebten.“
Gleichzeitig spürt Mary, dass ihr Wissen und ihre Fähigkeiten von Nutzen sein können für Menschen aus Donezk oder Charkiw, deren Häuser zerbombt sind, die so schnell nicht zurück können. Für die Kinder, mit denen sie als Freiwillige arbeitet.
Und dann sind da ja noch ihre eigenen Kinder, denen sie so etwas wie Normalität schenken möchte. In den kommenden Wochen bemerkt sie, wie sie sich langsam an dieses andere Leben gewöhnt.
„Ich hatte finanzielle Unterstützung, ich wusste, wohin ich die Kinder bringen konnte, falls es Probleme geben sollte, ich konnte mein Fahrrad reparieren, und ich fühlte mich wesentlich sicherer.“
Dann bekommt Mary eine besondere Chance.
Lachen auf der Bühne, Tränen hinter dem Vorhang
Schon immer hat Mary die Bühne geliebt. Sie ist Amateur-Schauspielerin, hat in der Ukraine ein eigenes kleines, englischsprachiges Theater. In Deutschland organisiert sie einen ukrainisch-deutschen Zirkusabend – mit Künstlern aus Kiew, vielen Kindern und Eltern.
„Ich stürzte mich in die Probenarbeit, riss mich zusammen, versuchte meine Gefühle unter Kontrolle zu bringen.“ Auf der Bühne übersetzt Mary, moderiert, lacht, sorgt für gute Stimmung. Irgendwann merkt sie, dass sie es nicht mehr aushält:
„Hinter dem Vorhang habe ich geweint, wischte mir die Tränen weg, musste dann wieder auf die Bühne, wo ich dann bei ukrainischen Liedern wieder weinen musste.“
Ihre Tochter bekommt einen Platz in einer Kita. Der Sohn könnte bald auf eine deutsche Schule gehen. Sollen sie den Kleinen anmelden? Was, wenn der Krieg nicht aufhört? Je länger sie bleiben, desto schwieriger würde es werden, die Verbindungen wieder zu lösen. Dann wären sie Emigranten. Und aus einem gemeinsamen Leben als Familie würden zwei einzelne.
Die Monate allein sind hart für Yarik. Von seiner Familie getrennt zu sein, macht es noch schwerer, den Krieg zu ertragen. Auch Mary sehnt sich nach ihrem Mann, die Kinder vermissen ihren Vater. Sie leiden an Ohrenschmerzen. Zu Hause hatten sie die nie. Psychosomatische Beschwerden, vermutet Mary. „Für mich war das Wichtigste, wieder zusammenzukommen“, sagt sie. „Egal wo.“
Rückkehr ins Ungewisse
Mary beschließt, mit den Kindern nach Winnyzja zurückzukehren. Im Auto muss sie weinen. Ist es wirklich die richtige Entscheidung? „Als wir dann über die Grenze fuhren, merkte ich, wie sehr ich das alles vermisst hatte: den Geruch des Grases hier, die Luft, die ukrainische Sprache, das war mir alles so nahe.“
Aber Mary ist auch voller Fragen: Was wird sie tun, wenn sie in Winnyzja ankommt? Wie wird es ihr gehen? Und den Kindern?
Im Juni, nach dreieinhalb Monaten, ist die Familie wieder vereint. Die Kämpfe sind da bereits viel schlimmer und ihre Heimat ist nicht mehr dieselbe. Aber Mary und die Kinder sind vorbereitet: „Wir hatten auch schon gehört, wie die Sirenen in der Stadt klingen – wir wussten, was uns erwartete. Deswegen war es einfach, sich einzugewöhnen. Als ich einmal da war, hatte ich weniger Angst als vorher.“
Die Stimmung in der Stadt ist trüb. Aber weit weniger traurig, als Mary es sich vorgestellt hatte: „Die Leute schienen langsam wieder zurück ins Leben zu kommen“, erzählt sie. „Es war Sommer, alles blühte, die Menschen gingen nach draußen, die Cafés hatten geöffnet, wenn es nicht gerade Luftalarm gab.“
Mary freut sich über die bekannten Gesichter und die Gespräche, die sich über ihre Sorgen legen.
„Das Land ist riesig“, sagt Yarik. „Wir wissen, wie der Ablauf des Krieges funktioniert. Jetzt wissen wir, dass die Städte nahe der Frontlinie stärker betroffen sind, im Osten und Südosten. Städte wie Cherson oder Charkiw, Mykolajiw, Dnipro oder Saporischja sind sehr gefährdet.“ In ihrer Region, sagt Yarik, haben sie mehr Glück.
Als die Raketen einschlagen
Im Juli 2022 kommt es zu einem heftigen Angriff auf Winnyzja. Mehrere Raketen schlagen vormittags in einer belebten Gegend der Stadt ein. Mehr als 20 Menschen sterben, über 100 sind verletzt. „Das war ein Wendepunkt, an dem die Leute hier gemerkt haben, dass es auch sie betrifft, dass sie sich auch in Sicherheit bringen müssen. Sie sind daraufhin viel vorsichtiger geworden,“ erzählt Mary.
Für unsere Stadt bedeutete das große Trauer und ein schweres Trauma, danach waren wir nicht mehr dieselben.
Sie sitzt an diesem Tag in der Küche, gibt gerade Online-Unterricht, als sie eine Explosion hört und der Balkon wackelt. Die Kinder sind mit einer befreundeten Mutter im Zoo. Yarik telefoniert mit ihr: Es geht ihnen gut, sie sind in Sicherheit.
„Dann hab ich erstmal aufgeatmet und angefangen, die Nachrichten zu lesen“, sagt Mary. „Für unsere Stadt bedeutete das große Trauer und ein schweres Trauma, danach waren wir nicht mehr dieselben.“
In der Schule ist es sicherer als zu Hause
Wenn Mary jetzt die Sirenen hört, hält sie sich vom Zentrum, von bedeutender Infrastruktur fern. Sie geht vielleicht nicht in einen Luftschutzraum, „aber auf jeden Fall suche ich einen sicheren Platz.“ Hinter zwei bis drei Wänden.
Die Tochter geht heute in einen privaten Kindergarten. Die öffentlichen Betreungsstätten sind wegen fehlender Schutzräume alle geschlossen. Auch in der Schule des Sohnes gibt es seit Januar 2023 unterirdische Räume. In der Schule im Keller, sagt Yarik, sei es sicherer für ihn als zu Hause. „Deshalb zögern wir manchmal, ihn abzuholen.“
In Winnyzja gibt es ein Kraftwerk, doch das ist beinahe komplett zerstört. „Um den normalen Alltag der Ukrainer zu attackieren“, sagt Yarik. Kein Strom, das bedeutet oft auch: keine Heizung, und kein Wasser, weil die Pumpen elektrisch betrieben werden. Aber Yarik findet, das ist kontraproduktiv:
Jedes Mal, wenn wir keinen Strom haben, werden wir umso wütender auf die Russen. Sie denken, sie würden uns dadurch gefügig machen, aber das Gegenteil ist der Fall, sie machen uns stärker und anpassungsfähiger
Er sei jetzt praktisch Elektriker, erzählt Yarik. Sogar das Modem hat eine autonome Stromversorgung. Damit haben sie im Dunkeln wenigstens Internet und können mit der Außenwelt kommunizieren.
Wenn der Krieg ganz nah kommt
Die Front mag zwar weit weg sein, aber der Krieg gehört trotzdem zum Alltag in Winnyzja. Es sind nicht nur die Nachrichten und Warnmeldungen. Es sind auch die Menschen, die nicht wiederkommen. Und jene, deren Zukunft ungewiss ist. „Einmal haben wir Sachen für einen Soldaten gesammelt, der an die Front geschickt wurde“, erzählt Yarik, „und nach einem Monat war er tot“.
Wenn Yarik und Mary kein Geld für seine Ausrüstung gesammelt hätten, wäre er dann noch am Leben? „Man fängt an, sich Vorwürfe zu machen, ein totales Gedankenkarussell. Aber wir glauben weiter an den Kampf.“
Manchmal wird es zu viel. Mary liest Tag und Nacht die Nachrichten. Dann entscheidet sie, das nicht mehr zu tun. „Wenn ich einen Alarm höre, informiere ich mich, was passiert, vielleicht eine halbe Stunde am Abend, aber den Rest des Tages muss ich mein normales Leben leben.“
Plötzlich weiß man ganz einfache Dinge zu schätzen: Essen, Kommunikation, Interaktion. Die Tatsache, am Leben zu sein.
Der Krieg hat vieles verändert. Die Leute seien flexibler geworden, sagt Yarik. Anpassungsfähiger. „Es gibt immer einen Plan B und man ist nicht mehr so schnell frustriert, wenn etwas nicht funktioniert, weil man sich dran gewöhnt hat.“ Man wisse plötzlich ganz einfache Dinge zu schätzen: Essen, Kommunikation, Interaktion. Die Tatsache, am Leben zu sein.
„Die Leute achten aufeinander, unterstützen und helfen einander. Man geht sehr feinfühlig und empathisch miteinander um. Ich muss jedes Mal weinen, wenn ich das miterlebe, weil es etwas Gutes ist, das in den Menschen zum Vorschein kommt“, sagt Yarik.
War es ein Fehler, in die Ukraine zurückzukehren?
Auch Yarik und Mary selbst lernen, dankbar zu sein, für das, was sie haben. Sonst organisieren sie Austauschprojekte – mit 20, 30 Leuten. Aber jetzt kommt niemand mehr. Nur rausschicken – das geht manchmal noch. Yarik sagt: „Wir tun schon noch etwas, aber es ist nur ein Schatten dessen, was wir vorher gemacht haben.“
Vor dem Krieg hatte Mary Räume für ihre Englischschule. Als sie zurückkehrt nach Hause, ist die Miete zu hoch. Der Unterricht muss online stattfinden. Mary braucht viele Schüler, um die Ausgaben zu decken. Aber sie hat Glück: Viele sind jetzt im Ausland und können es sich leisten. Und sie brauchen es auch, weiß Mary: „Nicht nur, um sich abzulenken, sondern auch um zu merken, dass sie sich, egal was passiert, noch weiterentwickeln und ihre Fähigkeiten ausbauen können. Dass sie Träume für ihre Zukunft haben können, und sie brauchen diese Träume.“
War es falsch, zurück in die Ukraine zu kommen? Obwohl sie alle, die ganze Familie, doch schon einmal in Sicherheit waren? Manchmal denkt Yarik das. Es sind dunkle Gedanken. Ein Jahr nach dem Angriff auf seine Heimat verspürt er vor allem eines: Müdigkeit.
Manchmal habe ich Angst, aber meistens habe ich Hoffnung.
Mary sagt, sie sei einfach froh, dass sie zusammen seien, egal unter welchen Umständen. "Manchmal habe ich Angst, aber meistens habe ich Hoffnung", betont sie: Hoffnung, dass sich alles regeln wird, dass der Krieg bald endet. "Vielleicht ist das meine rosa Brille, aber ich lebe in dem Glauben, dass all das vorbeigehen wird.“
Quellen: Deutschlandfunk Kultur, Utz Dräger, Jochen Dreier, Marei Ahmia, luc