Gemeinsam in der Krise
Die verschiedenen Kirchen und Religionsgemeinschaften haben die Ukraine in der Vergangenheit geprägt. Und sie tun das noch heute, gerade in diesen Tagen. Eine Spurensuche im westukrainischen Lviv, dem früheren Lemberg.
Hinter der Lateinerkathedrale, der römisch-katholischen Kirche im Zentrum von Lemberg, auf Ukrainisch Lviv, steht in der Fußgängerzone, nur wenige Schritte vom Marktplatz entfernt, ein Piano am Straßenrand. Wer möchte, setzt sich davor, spielt ein paar Takte oder einen ganzen Satz. Eine andere Zeit breitet sich aus zwischen den Häusern aus vergangenen Jahrhunderten, die ein wenig vergilbt sind, deren Putz abblättert und deren Stuck bröckelt. In ganzen Stadtvierteln von Lemberg reihen sich Gründerzeitbauten lückenlos aneinander – ein wenig Zagreb, ein wenig Graz, ein wenig Brünn. Lemberg ist von allen die habsburgischste Stadt.
Nach den Zusammenstößen in Odessa mit mehr als 40 Toten wurde auf dem Marktplatz ein ökumenisches Gebet angesetzt. Abgesehen davon erinnert hier nichts an die Auseinandersetzungen im Osten des Landes. Zurzeit kämpft die Ukraine um ihren Zusammenhalt. Sie droht in einen europäisch orientierten Westen und einen nach Russland gewandten Osten zu zerbrechen. Diese Bipolarität spiegelt sich auch in den Religionen des Landes wider: Während der Osten vornehmlich orthodox geprägt ist, gehören die Menschen in der Westukraine, dem früheren Ostgalizien, mit großer Mehrheit der griechisch-katholischen Kirche an.
In der derzeitigen Krise des Landes sehen sich jedoch alle Glaubensgemeinschaften der Ukraine geeint: Schon Anfang März hatten die höchsten Vertreter der orthodoxen, der griechisch-katholischen Kirche, der protestantischen Kirchen und der ukrainische Oberrabbiner einen Appell verfasst, in dem sie sich eindringlich gegen eine russische Militärintervention in der Ukraine wandten.
Massenmord der Nazis an der jüdischen Bevölkerung
Während der Proteste auf dem Maidan hatten die Kirchen erstmals nach Jahrhunderten des Streits an einem Strang gezogen und sich als gesellschaftliche Kraft erkannt. In der derzeitigen Krise verhalten sie sich zurückhaltend und sehen, wie es ein Mönch eines 100 Kilometer von Lemberg entfernten orthodoxen Klosters formuliert, ihren Platz in der Seelsorge, nicht in der Politik.
In Lemberg haben nurmehr fünf Prozent der Einwohner ihre Wurzeln in dieser Stadt. Nach dem Ersten Weltkrieg und dem anschließenden polnisch-ukrainischen Krieg wurde Ostgalizien, die heutige Westukraine, zu einem Teil Polens. Die polnische Bevölkerung, immerhin die Hälfte der Einwohner Lembergs, wurde damals nach Westgalizien um Krakau umgesiedelt. Dazu kam wenig später der Massenmord der Nazis an der jüdischen Bevölkerung der Stadt.
Ein Drittel der an die 400.000 Einwohner Lembergs waren vor dem Zweiten Weltkrieg Juden. Sie wurden während des Nazi-Terrors in Konzentrationslagern getötet. Nach dem Krieg lebten nurmehr 800 Juden in Lemberg. Die meisten von ihnen wanderten aus. Einer von den wenigen, die überlebt haben und geblieben sind, ist der heute 91-jährige Boris Dorfman. In der Sowjetzeit arbeitete er als Ingenieur in der Pharmazie und an der Oper der Stadt. Er erzählt davon, dass Juden seit 600 Jahren in Lemberg leben, auch von den 100.000, die im Zweiten Weltkrieg ermordet wurden. Doch er erzählt ohne Bitterkeit.
"Ich bin sehr zufrieden, was ich hab gelebt mein Leben. Meine Familie ist gewesen eine jüdische. Meine Eltern sind gewesen jüdische Aktivisten. Und sehr viele junge ukrainische Studenten lernen jetzt jiddisch. 30, 40 Enthusiasten – no jetzt, die jüdische Sprache ist nicht populär."
Der alte Mann mit weißem Haar und wachen Augen sitzt in einem kleinen Raum der einzigen erhaltenen chassidischen Synagoge Lembergs. Sie ist das Kulturzentrum der kleinen jüdischen Gemeinde, befindet sich aber in baufälligem Zustand. Während der Sowjetzeit hatte eine Druckerei hier ihre Sporthalle eingerichtet. Boris Dorfman erzählt vom Antisemitismus damals.
"In Lemberg hat gearbeitet ein jüdisches Theater, hat man eben geschlossen. In Lemberg hat herausgegeben eine jüdische Zeitung, hat man geschlossen. In Lemberg hat gearbeitet eine jüdische Bibliothek, hat man alles vernichtet. Und so sind aus uns geworden sowjetische Bürger. Das Wort 'Jud' ist gewesen - nicht verboten, aber ist gewesen kein schönes Wort, ja. Und viele Juden haben sich assimiliert."
Lemberg ist eine Stadt der Kirchtürme
Bei genauem Hinsehen entdeckt man aber noch die jüdischen Spuren in der Stadt: Auf der verwaschenen Hauswand einer ehemaligen Gemischtwarenhandlung an einer Straßenecke im früheren jüdischen Viertel: Anschriften auf Polnisch, Deutsch und Hebräisch. "Prima Würfelzucker" etwa. Oder am Türstock zu einer Wohnung in einem Hinterhof: Die fingergroße helle Stelle im Lack, wo einst eine Mesusa angebracht war, die Schriftkapsel an jüdischen Wohnungstüren.
So wie heute Lemberg eine Stadt der Kirchtürme ist, beherbergte sie einst viele Synagogen. Heute ist gerade noch eine in Funktion, in der Nähe des Bahnhofs. Hinter den Fenstern der Nebenräume huschen bärtige Männer mit Schläfenlocken im Kaftan vorbei. Der Urgroßvater von Rabbi Mordechai Shlomo Bald war aus Lemberg nach New York ausgewandert. Er selbst ist vor mehr als 20 Jahren aus Brooklyn hierher zu den Wurzeln seiner Familie zurückgekehrt, um die kleine jüdische Gemeinde in Lemberg wieder aufzubauen. Die Ankunft aus den USA in eine Ukraine, die gerade das Sowjetsystem abgeschüttelt hat, sei ein Schock gewesen, gibt Rabbi Bald zu.
"Als ich hierher kam, fragte mich jemand: Wenn die Welt in einer Woche endet, wo möchtest du diese Woche verbringen? Wo möchtest du sein? Ich antwortete: In Lemberg. Warum in Lemberg? Weil dort alles 20 Jahre später passiert."
In all der Rückständigkeit, in die er geraten ist, habe er aber an den Menschen in Lemberg erfahren, die Kriege und Entbehrungen durchgemacht hätten, dass sie enorm ums Überleben in Freiheit kämpfen, erzählt Rabbi Bald. Nur eine Handvoll Menschen kommt am Sabbat in seine Synagoge. Galizien mit seinem jüdischen Shtetl gibt es seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr, die ebenso armen wie frommen chassidischen Juden prägen das Land nicht mehr.
Zahlreich und alt sind hingegen die Kirchen in Lemberg. Gleich drei Glaubensgemeinschaften gehören dem byzantinischen Ritus an: Die dem Moskauer Patriarchat unterstehende, die dem Kiewer Patriarchat unterstehende und die autokephale orthodoxe Kirche. Vorherrschend ist in der Westukraine allerdings die mit Rom unierte griechisch-katholische Kirche. Sie war, anders als die orthodoxe Kirche, zur Zeit der Sowjetunion verboten und verfolgt.
In der Sowjetzeit wurde die unierte Kirche unterdrückt
Doch sie hat im Verborgenen überlebt: Heute gibt es in der Diözese wieder 350 Priester und mehr als 100 Theologiestudenten. Weltweit zählt die griechisch- oder ukrainisch-unierte Kirche mehr als fünf Millionen Gläubige und 50 Bischöfe. Auf einer Anhöhe über der Stadt liegt der Rundbau der Sankt Georgs-Kathedrale. Weihbischof Benedikt Aleksijtschuck ist ein großer Mann mittleren Alters mit grauem Bart, in schwarzem Talar, über dem er ein Marienbild an einer silbernen Kette trägt. Er sieht einen bedeutenden Unterschied seiner Kirche zu den drei orthodoxen Gemeinschaften:
"Die griechisch-katholische Kirche ist nicht vom Staat abhängig und hat ihre eigene Rechtsprechung. Darum hat unsere Kirche so viel gelitten während der Stalinzeit. Und heutzutage hat unsere Regierung die unierte Kirche nicht gerne, weil sie zu offen und nicht vom Staat abhängig ist. Es gibt ein Sprichwort in der ukrainischen Sprache, das lautet: Nur in der Mausefalle ist der Käse gratis. So sind die Beziehungen von beiden Seiten: Wenn ich jemanden unterstütze, erwarte ich die Unterstützung von der anderen Seite. Das ist nichts Neues, das gibt es schon lange: Gegenseitige Abhängigkeit, in der Ukraine nennt man das Cäsaropapismus."
Aber, fügt Weihbischof Aleksijtschuck noch hinzu, die Ukraine habe eine Besonderheit: Alle drei orthodoxen Kirchen versuchen, staatlich zu werden. Nach der Wende war das Verhältnis seiner Kirche zu ihnen gespannt. Denn der wieder zugelassenen unierten Kirche wurden die in der Sowjetzeit enteigneten Kirchengebäude rückerstattet. Nicht alle waren zweckentfremdet worden. Viele wurden inzwischen von den Orthodoxen genutzt, die sie nun nicht mehr zurückgeben wollten. Mittlerweile sei der Konflikt beigelegt. Wird eine Kirche benötigt, dann wird eine gebaut, sagt der Weihbischof. Seine Kirche wachse. In der Ukraine treffe man nur schwer auf einen echten Atheisten, das Feld sei groß genug für Orthodoxe und Unierte.
"Wir haben auch viel Einfluss des Westens in der Ukraine. Viel Gutes, aber leider auch Schlechtes. Die Menschen sind der Meinung, das Neue soll gut sein. Die Ukraine befindet sich im Zentrum, sie hat zwei Einflüsse, von Russland und vom Westen. Trotzdem haben wir viele Berufungen. Gott gibt uns das."
Das plötzliche Wiedererstehen der griechisch-katholischen Kirche
Sonntagsgottesdienst in der Maria Schnee-Kirche, dem ältesten katholischen Gotteshaus der Stadt. Die ukrainisch-katholische Kirche spiegelt Byzantinisches wie Römisches, so wie es das zwischen Russland und Europa gelegene Land tut. Das Äußere der Kirche am Kreuzungspunkt zweier alter Handelsstraßen ist kaum von der Orthodoxie zu unterscheiden: Die reich mit Gold verzierte Ikonostase, also die Trennwand zwischen Gemeinde- und Altarraum, der Wechselgesang zwischen Priester und Volk, viel Weihrauch mit klingenden Schellen. In der Mess-Liturgie lässt sich hingegen unschwer der katholische Ablauf erkennen.
Für die Orthodoxie war das plötzliche Wiedererstehen der griechisch-katholischen Kirche nach der Wende eine unerwünschte Konkurrenz. Viele Menschen waren unter dem Druck der Sowjets in die orthodoxe Kirche übergetreten. Daraus entstanden nach 1989 persönliche Konfliktsituationen, erzählt der Historiker Vasyl Rasevich:
"Ein Teil der Familie wollte weiter orthodox bleiben, ein Teil wollte wieder uniert sein. In diesen 23 Jahren, die die Ukraine schon unabhängig ist, die Situation hat sich geändert. Und es gibt keine Unterschiede jetzt, und deswegen Leute wollen wirklich frei bleiben. Sie wollen auch in die römisch-katholische gehen oder in eine andere Kirche gehen. Und deswegen gibt es gespannte Beziehungen auch zwischen den Kirchen. Manche ukrainische Kirchen sind sehr stark nationalistisch. Kann man hören, wenn ein Patriarch oder ein Metropolit spricht, und das ist eine Rede eines echten Nationalisten."
Dass es diese ukrainische Nation überhaupt gibt, dafür steht allerdings die unierte Kirche.
"Diese Kirche hat eine wesentliche Rolle gespielt bei der Formierung der modernen ukrainischen Nation. Und diese Kirche, da die griechisch-katholischen Priester durften heiraten, diese Kirche hat wortwörtlich die ukrainische moderne Elite geboren. Die modernen Advokaten, Journalisten, Professoren stammten aus den Priesterfamilien. Und deswegen hat die Kirche eine so, so große Rolle gespielt. Und lange Zeit diese Kirche war einzige ukrainische intelligente Organisation, Institution in Galizien."
Die verschiedenen Kirchen und Religionsgemeinschaften haben die Ukraine in der Vergangenheit geprägt – sie tun das noch heute, gerade in diesen Tagen. Ihr gemeinsamer Appell gegen eine russische Intervention ist ein Zeichen, dass sie vereint politisch agieren können. Fraglich ist dennoch ihr Gewicht in der momentanen politischen Krise.