Kinder im Ukraine-Krieg

Angst, Hass und Depressionen

24:12 Minuten
Eine durch militärischen Beschuss durchlöcherte Wand in einer Schule in Bakhmut, Gebiet Donezk. Auf der grünen Wand ist ein Junge beim Ball spielen abgebildet.
„Die Kleinen sind bei Luftalarm meist ganz ruhig", sagt eine Lehrerin aus Kiew – relativ weit weg von der Schule im umkämpften Bachmut auf dem Bild. Doch die Erwachsenen verlören schon mal die Nerven. © Getty Images / Global Images Ukraine / Yan Dobronosov
Von Sabine Adler · 11.01.2023
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Rund sieben Millionen Kinder in der Ukraine erleben den Krieg als Dauerbelastung. "Wir können nicht dafür sorgen, dass sie das vergessen", sagt eine Lehrerin in Kiew über den Schulalltag. "Aber wir können ihnen das Gefühl geben, dass es hier Stabilität gibt."
Schule unter Kriegsbedingungen stellt an ukrainische Lehrerinnen und Lehrer völlig neue Anforderungen. „Wir haben trainiert, bei Luftalarm innerhalb von drei Minuten im Keller zu sein. Die Kleinsten im Erdgeschoss laufen zuerst los, dann die Größeren aus der zweiten, dritten und vierten Etage. Im Keller hat jede Klasse ihren Platz", erklärt Tetiana Schwez, was die Lehrer den Schülern als erstes beibringen mussten. Sie ist Vize-Direktorin eines Lyzeums in der ukrainischen Hauptstadt Kiew.
Jeder Schüler, jede Klasse muss die Flucht in den Keller immer wieder üben. Die Schule von Tetiana Schwez liegt im Stadtzentrum. Die Lehrerin, die ursprünglich aus Charkiw kommt, hat ein bisschen Zeit, aus dem Kriegsalltag an ihrer Schule zu erzählen, denn es gibt gerade Strom.

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Die Verabredung zum Video-Gespräch klappt auf Anhieb. Am Himmel über Kiew bleibt es friedlich. Heute jedenfalls. „Die Kleinen sind bei Luftalarm meist ganz ruhig, keiner weint oder regt sich auf", sagt Schwez. " Aber die Älteren verlieren schon mal die Nerven. Einmal geschah das während eines Luftalarms, weil sie sahen, wie zwei Lehrerinnen furchtbar weinten. Die Lehrerinnen haben selbst Kinder, und die waren mitten im Angriff ganz allein zu Hause. Sie machten sich schreckliche Sorgen. Es war furchtbar. Wir hörten die Explosionen draußen und der Strom fiel aus. Jetzt sind wir alle ruhiger. Keiner wartet auf Luftalarm, wenn er kommt, kommt er, dann gehen wir in die Keller, dort machen wir dann mit dem Unterricht weiter.“

Dauerbelastung im Krieg

Vorausgesetzt es gibt Strom. Wenn nicht, kommen die Taschenlampen zum Einsatz, das Pädagogen-Team ist vorbereitet. „Dann spielen wie zusammen, reden, unterhalten uns. Etwas unternehmen wir immer mit ihnen.“
Nicht nur die Soldaten, auch viele Zivilisten fühlen sich ausgelaugt. Die Kinder erleben die inzwischen knapp elf Monate Krieg als Dauerbelastung. Die Schule wird privat geführt, kann sich eine Schulpsychologin leisten. Olga Perekopajko ist ein Glücksfall sowohl für die Kinder als auch für das Lehrpersonal. Die fröhliche Frau mit der roten Lockenmähne hat Erfahrung, denn sie betreut schon seit 2014 Familien, deren Väter oder Söhne im Krieg in der Ostukraine kämpfen.
Eine Frau sitzt in einer Bibliothek auf einem Sofa und schaut in die Kamera.
„Die Kleinen sind bei Luftalarm meist ganz ruhig, keiner weint oder regt sich auf“, sagt Tetiana Schwez, Vize-Direktorin eines Lyzeums in Kiew.© Yana Lukianenko
Die Arbeit in der Schule mit den Kindern ist neu für die 38-Jährige, die sich wegen einer kurzen Fortbildung gerade in Berlin aufhält. „Jeder reagiert auf den Stress anders", sagt sie. Dem einen sehe man äußerlich gar nichts an. "Der nächste kriecht in eine Ecke und verschanzt sich dort, andere wissen es sehr zu schätzen, wenn man sie in eine Decke einwickelt – nicht nur gegen die Kälte, sondern weil sie sich dadurch geschützter fühlen. Wieder anderen geht es besser, wenn sie sich bei den Händen halten. Wir geben den Schülern immer Zeit, sich im Keller einzurichten, ihren Platz zu finden.“

Väter an der Front

Viele Kinder vermissen ihre Väter, die an der Front sind. Sie machen sich Sorgen, haben Angst um sie. Der Lehrerin Tetiana Schwez fällt auf, dass sie auch damit sehr unterschiedlich umgehen. "Das ist nicht immer zu merken. Bei manchen spürt man es, sie sind empfindlicher. Wir können nicht dafür sorgen, dass sie das vergessen, aber wir können ihnen das Gefühl geben, dass sie bei uns in Sicherheit sind, dass es hier Stabilität gibt." Das sei sehr wichtig für die Kinder.
Vier Kinder stehen um einen Schultisch und basteln.
Kinder und Lehrer einer Schule in Lviv stellen Kerzen für das ukrainische Militär her.© picture alliance / AA / Pavlo Palamarchuk

Für Kinder ist es manchmal sogar einfacher, traumatisierende Erlebnisse zu verarbeiten, als für Erwachsene. Unisono sagen tatsächliche alle Fachleute, Kinder brauchen einfach jemanden, an dem sie sich orientieren können, auf den sie sich verlassen können.

ARD-Korrespondentin Andrea Beer im Weltzeit-Interview

Nach Einschätzung von UNICEF sind etwa 1,5 Millionen ukrainischer Kinder von Depressionen, Angstzuständen und anderen psychischen Problemen bedroht. Olga Perekopajko hat als Schulpsychologin vor allem im Blick, wie sie ihnen helfen kann, mit der dauernden Anspannung fertig zu werden und durchzuhalten. „Damit die Kinder psychisch stabil bleiben und Stress abbauen, wenden wir verschiedene Techniken an, zum Beispiel wie man schreit, mit den Füßen stampft – eben richtig Krach macht", so Perekopajko. "Diese Techniken kennen auch die Pädagogen, und alle 30 Minuten geben sie den Kindern Zeit dafür, auch im Keller, um den Luftalarm zu überstehen, der manchmal fünf Stunden dauern kann.“

Eurovision-Song sorgt für Ablenkung

Schreien befreit, auch gemeinsames Singen hilft. Die Jungen und Mädchen haben den Sieger-Titel des diesjährigen Eurovision Wettbewerbs einstudiert. „Stefania“ heißt der Song des ukrainischen Kalush Orchesters, der immerzu bei ihnen läuft, bei dem sie abschalten können.
Der Zusammenhalt unter den Jugendlichen sei jetzt viel fester als vor dem Krieg, den allergrößten Wandel aber gebe es bei ihrer Leistungsbereitschaft, stellt die Schulpsychologin fest. „Die Kinder sagen, wir wollen nicht so dumm sein wie die Russen. Deswegen wollen sie lernen. Das ist eine Motivation, die wir niemals zuvor auch nur annäherungsweise erreichen konnten." Wegen des Stresses könnten sich viele Jugendliche allerdings sehr viel schlechter konzentrieren. "Sie vergessen mehr. Was sie gestern noch gut konnten, ist heute weg.“

Furcht und Hass

Olga Perekopajko benennt Probleme ohne Umschweife. In der Hauptstadt Kiew gibt es zwar keine Kampfhandlungen, aber wenn die Sirenen heulen, fürchten sich die Kinder und Jugendlichen nicht nur vor den russischen Raketen, sondern entwickeln oft auch starke Hassgefühle.
Die Psychologin hilft, den Schülern und auch deren Eltern, mit diesen negativen Emotionen besser zurechtzukommen. „Wenn manche Eltern auf Cherson oder Mariupol verweisen, wo es viel schlimmer ist als in Kiew, hilft das nicht", sagt sie. "Denn ihre Kinder sind in Kiew und leiden hier. Sie sollten den Hass und die Angst zulassen und erklären, dass diese Gefühle in dieser Lage normal sind. Damit werden diese Gefühle legalisiert. Du empfindest Hass? Weil es etwas gibt, das diesen Hass auslöst. Du möchtest, dass Moskau brennt? Du hast ein Recht auf diesen Wunsch. Aber dieser Hass kostet dich viel Energie. Lass uns überlegen, wie man die nutzen kann, nicht um jemandem zu schaden, sondern für das eigene Wohl.“

Umgang mit den Emotionen

Dann schlägt sie etwa vor, den ukrainischen Soldaten an der Front zu schreiben oder einen Kuchenbasar zu veranstalten und mit dem Geld Spielzeug für ein Kind zu kaufen, das seinen Vater verloren hat. Ihren Schülern erzählt sie, wie sie selbst mit ihrem eigenen Hass umgeht. Vor Kurzem ist sie bei einem Marathon mitgelaufen, der zu Ehren der gefallenen Helden stattfand. Man konnte sich für zweieinhalb, fünf oder zehn Kilometer anmelden und bekam dann den Namen und die Geschichte eines Helden genannt. Für ihn und vor allem für dessen Familie lief sie.
Eine Frau mit roten Haaren hält ein Schild mit der Aufschrift "Ukraine is my home".
"Für die Kolleginnen ist es eine große Belastung, sich im Krieg immer zuerst um die Kinder kümmern zu müssen, für sie rund um die Uhr erreichbar zu sein", sagt die Schulpsychologin Olga Perekopajko.© privat
Die Jugendlichen legen ihre Telefone nur aus der Hand, wenn sie müssen. Sie kennen die aktuellen Meldungen aus den Kampfgebieten, ist sich Tetiana Schwez sicher. Auch die Nachricht aus Cherson, wo in einer Folterkammer Kinder festgehalten und gequält worden sein sollen. „Wir Lehrer thematisieren nicht als erste solche schlimmen Nachrichten, aber wenn die Kinder davon anfangen, reden wir natürlich mit ihnen darüber. Vor allem mit den Ältesten waren wir von Anfang an in engem Kontakt. Die Schüler wollten selbst etwas tun und haben sich schließlich entschlossen, Hackerangriffe auf russische Internetseiten zu starten.“

Kleine Feste gegen den Krieg

Damit der Schulalltag im Krieg nicht nur aus Sorgen und Angst besteht, organisiert das Team um Tetiana Schwez immer wieder kleine Feste. Allerdings nicht nur lustige, witzige und unterhaltsame wie früher. "Jetzt müssen sie immer auch einen Zweck erfüllen. Aber die Kinder sollen sich trotzdem entspannen und ablenken können." Vor Kurzem hätten sie ein Konzert mit Liedern, Tänzen und Gedichten veranstaltet und Eintrittskarten dafür an die Eltern verkauft. "Das Geld spendeten wir Ärzte an der Front."
Auch eine Auktion habe es gegeben. "Ich habe dieses Bild hier gekauft. Können Sie es erkennen?“, erzählt Tetiana Schwez im Videochat. Die Lehrerin mit dem schicken Kurzhaarschnitt hält ein Bild, groß wie ein Plakat in die Kamera. Darauf eine Frau im Profil, die in die Ferne schaut, in blau-gelben Nationalfarben gemalt.
Die Auktion konnte stattfinden. Aber dreimal musste sie ein Schulfest absagen – Raketenalarm. Kindergeburtstage werden nur noch selten gefeiert. „Früher haben die Kinder zu ihrem Geburtstag Torten mitgebracht oder Pizza. Wir haben alle in der Klasse zusammen gegessen und gefeiert. Das gibt es jetzt fast nicht mehr. Uns steht einfach nicht der Sinn danach." Und viele Eltern können sich diese kleinen Extravaganzen auch nicht mehr leisten. „Meine Bekannte, die mehrere Malzirkel für Kinder leitet, sagt, dass die Schüler immer Taschenlampen mitbringen, für den Fall, dass der Strom ausfällt, denn sie wollen unbedingt zeichnen. Etliche Kurse finden online statt. Aber viele Eltern haben auch dafür jetzt kein Geld mehr.“ Sport aber bieten sowohl die Schulen als auch Kiewer Vereine an, wann immer es möglich ist.

Viele Schülerinnen und Schüler sind geflohen

Von den ehemals 450 Schülern des Lyzeums ist die Hälfte, von den Lehrern jeder dritte geflohen oder hat einen anderen Job, weil die gekürzten Gehälter nicht zum Leben reichen. Diejenigen, die noch in der Hauptstadt ausharren, unterrichten die Kinder sowohl in Präsenzstunden als auch online. Die Schüler im Ausland bekommen zusätzlich samstags und sonntags Unterricht, damit sie den Anschluss an den heimischen Lehrplan nicht verlieren.
Für die Pädagogen bedeutet das eine enorme Belastung, weiß Psychologin Olga Perekopajko, auch wenn niemand klagt. „Die Lehrerinnen kommen äußerst selten zu mir, wenn es ihnen nicht gut geht. Aber ich sehe das und habe mir eine Strategie zurechtgelegt, sie in ein Gespräch zu verwickeln. Für die Kolleginnen ist es eine große Belastung, sich im Krieg immer zuerst um die Kinder kümmern zu müssen, für sie rund um die Uhr erreichbar zu sein, dementsprechend ausgebrannt fühlen sich viele.“
Die Schüler melden sich oft noch um 23 Uhr bei Olga Perekopajko, und sie wimmelt niemanden ab, der dringend mit ihr reden möchte. Dass ihre Kraft dafür reicht, hat sie manchmal einem Kollegen aus Armenien zu verdanken, der sie stützt. Er gehört zu einem internationalen Netzwerk von Psychologen und Psychologinnen, das seit Monaten vor allem den Kollegen in der Ukraine zur Seite steht.
Zweck dieses Netzwerkes ist es, den Helfern Hilfe zu erweisen. Vor allem, wenn sich die schlechten Nachrichten häufen, braucht Olga Perekopajko den Kollegen in Jerewan. „Seit dem 24. Februar gab es keinen Tag, an dem ich nicht gebetet habe. Es sind Gebete für die Toten. Ich habe eine Liste, und jeden Morgen fürchte ich, meine Nachrichten zu lesen, denn meist wird die Liste dann länger, dann kommt ein Freund dazu oder der Vater eines Schülers oder der Ehemann einer Bekannten. Daran kann man sich nicht gewöhnen.“

Funkstille mit den russischen Freunden

Tetiana Schwez stammt aus Charkiw, wo sich die russische Grenze in nur 50 Kilometern Entfernung befindet und immer wieder heftige Kämpfe toben. Sie belastet, dass ihr Freundeskreis schon zu Beginn des Krieges deutlich geschrumpft ist.
Wie viele Ukrainer hatte sie enge Verbindungen zu Russen und Russinnen, doch jetzt herrscht Funkstille. „Als wir zum ersten Mal die Nachrichten aus den Orten rund um Kiew hörten, Butscha, Irpin und Borodjanka, war das einfach furchtbar. Ein großer Stress. Ich hatte viele Kontakte nach Russland. Aber nach diesen Verbrechen hat sich nur noch eine einzige russische Freundin bei mir gemeldet. Alle anderen haben sich nicht mehr gemeldet. Dieses Schweigen finde ich sehr befremdlich und erstaunlich. Ich habe diese Personen aus meine Liste gelöscht. Ihr Verhalten war zu schmerzhaft.“
Sie macht sich keine Illusionen: Diese Freundschaften werden kaum wiederbelebt werden können. Aber wie negativ ihre Schüler auf das Verhältnis zu Russland blicken, lässt die passionierte Lehrerin dann doch aufhorchen, sagt sie am Handy.  „Ein Jugendlicher sagte, das wird unser Schicksal sein, mit einem solchen Nachbarn zu leben, der uns niemals in Ruhe lassen wird, mit dem wir immer kämpfen werden. Selbst, wenn dieser Krieg aufhört. Er geht davon aus, dass er immer auf der Hut sein muss, weil es jederzeit wieder Krieg geben kann.“
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