Kirche zwischen den Fronten
Zwei orthodoxe Kirchen gibt es in der Ukraine: die russisch- und ukrainisch-orthodoxe. Im aktuellen Konflikt sind sie auch innerlich gespalten, sagt der Kirchenexperte Thomas Bremer.
Gabi Wuttke: Das kommt nicht alle Jahre vor: Auch für die orthodoxen Kirchen ist morgen Ostern. Doch die Gemeinsamkeiten haben Grenzen, nicht nur zwischen der römisch-katholischen Kirche und den orthodoxen, sondern auch innerhalb der orthodoxen Kirchen. Denn in der Ukraine gehören die Gläubigen entweder der ukrainisch-orthodoxen Kirche oder der russisch-orthodoxen Kirche an. Die eine wiederum hält von der anderen gar nichts. Was bedeutet das, auch im aktuellen Konflikt, und wie wird Geschichte, wie wird Kirche verstanden? Thomas Bremer ist Professor für Ökumenik, Ostkirchenkunde und Friedensforschung an der Uni Münster und kann diesen komplexen Zusammenhang erklären. Einen schönen guten Morgen!
Thomas Bremer: Guten Morgen!
Wuttke: Was bedeuten die unterschiedlichen Zugehörigkeiten ganz praktisch für die Gläubigen in der Ukraine jetzt über Ostern?
Bremer: Die Menschen, die gehen natürlich in die Kirche, in die sie üblicherweise sonst auch gehen. Das ist besonders klar auf dem Land, etwas anders vielleicht in den größeren Städten, wo es diese verschiedenen Kirchen – es gibt noch andere, aber diese Kirchen, die Sie genannt haben – nebeneinander gibt und wo man sich dann sozusagen aussuchen kann, in welche Kirche man geht.
Wuttke: Wie versteht sich denn das Kiewer Patriarchat und wie mächtig ist das in Moskau?
Kiewer Patriarchat von anderen orthodoxen Kirchen nicht anerkannt
Bremer: Das Problem ist, dass das Kiewer Patriarchat eine Gründung aus den 90er-Jahren ist, die auch sehr stark von der damaligen ukrainischen Regierung unterstützt wurde, die Regierung, die das Interesse hatte, eine einheitliche Kirche für die ganze Ukraine zu haben. Und dass aber dieses Kiewer Patriarchat von keiner anderen orthodoxen Kirche anerkannt wird. Es gibt gewisse kirchliche Vorschriften, nach denen neue orthodoxe Kirchen entstehen können. Das ist oft ein komplizierter und mit Konflikten behafteter Prozess. Das gibt es auch woanders, in Estland oder in Makedonien oder in Montenegro, aber in der Ukraine aufgrund der besonderen nationalen und politischen Situation ist es eben besonders komplex.
Das heißt, die relativ große Kirche des Kiewer Patriarchats hat auch Anhänger, und die haben auch eine politische Option, die in die Richtung geht, Integrität der gesamten Ukraine. Aber sie werden eben als Kirche von den anderen orthodoxen Kirchen, also etwa von den Griechen oder von den Serben, von den Rumänen, nicht anerkannt. Sondern die einzig legitime Kirche aus orthodoxer Perspektive ist die Kirche in Gemeinschaft mit dem Moskauer Patriarchat.
Wuttke: Und was und wen vertritt denn das Moskauer Patriarchat?
Auf der Krim ist das Moskauer Patriarchat besonders stark
Bremer: Das sind zum einen die Menschen, die zu einer anerkannten, offiziellen, ich sage mal, richtigen Kirche gehören wollen. Und zum anderen sind es natürlich auch Menschen, die eher eine russische Option vertreten, also im Osten der Ukraine, auf der Krim ist das Moskauer Patriarchat immer besonders stark. Man muss allerdings dazu sagen, dass es auch eine Reihe von Menschen gibt, etwa in Kiew, die sich zur Kirche des Moskauer Patriarchats zugehörig fühlen, die sich als Ukrainer fühlen, die Ukrainisch als Muttersprache haben und die eine ukrainische Option, also eine gesamtukrainische sozusagen politische Option vertreten.
Wuttke: Wenn also, wie in den letzten Tagen gesehen, jemand im Osten der Ukraine mit einer Ikone durch die Straßen läuft, sichtbar ein politischer Aktivist, wird dann die Kirche instrumentalisiert oder der politische Aktivist durch die Kirche?
Die Religion wird politisch instrumentalisiert
Bremer: Ich würde eher sagen, da wird die Kirche, oder vielleicht kann man sagen, die Religion instrumentalisiert. Ikonen ist ja ein Kennzeichen, das alle orthodoxen Kirchen in der Ukraine haben. Und das ist sicher jemand, der damit zum Ausdruck bringen möchte, dass die politische Option, für die es steht, dass er für diese Option himmlischen Schutz und himmlische Hilfe erbittet.
Wuttke: Vielleicht können Sie uns dieses komplexe Gebilde auch noch mal erklären, wenn ich Sie frage, warum das Kiewer Patriarchat von der Stadt als einem zweiten Jerusalem spricht und das Moskauer Patriarchat von der Mutter aller russischen Städte? Was genau steckt da dahinter?
Bremer: Das hängt zusammen mit der Geschichte des Christentums in diesen Regionen, um es mal ganz neutral auszudrücken. Wahrscheinlich im Jahr 988, aber jedenfalls im Ende des 10. Jahrhunderts ist von Konstantinopel aus, also über das Schwarze Meer und über den Fluss Dnepr in Kiew das Christentum als lokale Religion installiert worden und hat die vorherrschenden Paganenreligionen abgelöst. Der Großfürst von Kiew hat eben das Christentum in dieser östlichen Form angenommen. Damals gab es noch nicht den Unterschied zwischen Russen und Ukrainern. Aber Kiew war die Hauptstadt dieses Staatengebildes, also ein Konglomerat von Fürstentümern.
Anhänger in beiden politischen Lagern
Das hat sich dann im Laufe der Jahrhunderte nach Norden verlagert, bis dann schließlich in einem längeren Prozess Moskau die Hauptstadt dieser Fürstentümer wurde und dann ein einheitlicher russischer Staat entstand. Deswegen ist aus russischer Sicht Kiew eben die Mutter aller russischen Städte. Aus ukrainischer Sicht ist es häufig so, dass viele sagen: Das, was dann später in Moskau und im Norden geschehen ist, ist eigentlich eine andere Geschichte, und die ukrainische Geschichte hat ihre Kontinuität auch in Kiew. Und die enge Zusammengehörigkeit, die es über viele Jahrhunderte historisch gegeben hat zwischen der Ukraine und Russland und zwischen Ukrainern und Russen und die oft unklaren Grenzen zwischen den Staaten und auch zwischen den Nationen, das alles trägt dazu bei, dass es diese schwierige und etwas komplexe Situation gibt, die wir heute vorfinden.
Wuttke: Wir wissen, dass Wladimir Putin und das Kirchenoberhaupt Patriarch Kyrill in Moskau eigentlich eine Linie fahren. Aber als die Krim annektiert wurde und der russische Präsident weiter mit den Muskeln spielte, da sprach Kyrill davon, dass es Frieden geben müsste. Streiten die beiden miteinander oder fahren sie eigentlich weiterhin eine Linie?
Bremer: Also dass sie miteinander streiten, dafür gibt es kein Indiz. Aber das Problem ist für die Kirche, dass es Angehörige der Kirche des Moskauer Patriarchats in der Ukraine gibt, auf beiden Seiten, wie der Patriarch mal gesagt hat, auf beiden Seiten der Barrikaden, in beiden politischen Lagern. Das heißt, wenn die russische Kirche jetzt eine eindeutige politische Option, etwa die der russischen Regierung, übernehmen würde, würde sie damit Millionen ihrer Gläubigen verprellen in der Ukraine, die das eigentlich anders sehen. Deswegen ist die russische-orthodoxe Kirche in Moskau und der Patriarch Kyrill, die sind in ihren Äußerungen sehr zurückhaltend. Man merkt richtig, dass der Patriarch und die Kirchenleitung etwas lavieren müssen, um die eigenen Angehörigen in der Ukraine, die eine andere politische Option vertreten als die russische, um die also nicht vor den Kopf zu stoßen.
Starkes Bewusstsein für eine einheitliche Ukraine
Wuttke: Kiew, Mutter aller russischen Städte – ist das eine Gefahr, dass es tatsächlich zu einer Bewegung von Moskau nach Kiew kommen könnte, trotz aller Beschwichtigungen zurzeit?
Bremer: Das sehe ich nicht so stark. Es gibt für diese Bezeichnung Mutter aller russischen Städte eben gewisse historische Gründe. Wenn man die Geschichte sich wenigstens aus Moskauer Perspektive ansieht, dann kann man das sehen. Und das ist ja auch etwas, was immer wieder vorkommt. Also wenn Sie die deutsche Geschichte angucken, da spielen eben auch Städte wie Salzburg oder Wien oder Prag eine wichtige Rolle, die heute nicht zu Deutschland gehören. Ich bin davon überzeugt, dass es in der Zentralukraine und in Kiew ein sehr starkes Bewusstsein für eine einheitliche Ukraine gibt, also auch unter den Menschen, die russisch sprechen und russisch als Muttersprache haben, gibt es eine große Mehrheit, die sich als Ukrainer fühlen. Und deswegen kann ich mir nicht vorstellen, und es wäre auch von der russischen Regierung eine massive Fehleinschätzung, wenn sie versuchen würden, mit politischem Druck oder gar mit militärischen Mitteln in diese Richtung etwas vorzugehen. Die Situation auf der Krim war anders. Man kann das auch nicht rechtfertigen, aber man muss eben sehen, dass die historisch und auch von der demografischen Situation, die Krim anders gelagert war, als das mit der Ostukraine oder eben mit der gesamten Ukraine anders ist.
Wuttke: Meint Professor Thomas Bremer im Deutschlandradio Kultur, besten Dank!
Bremer: Danke schön!
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