Ukraine-Konflikt

Putin von "Sowjet-Nostalgie" getrieben

Wladimir Putin und Dimitri Medwedjew nehmen an der Feier auf dem Roten Platz in Moskau teil.
Wladimir Putin und Dimitri Medwedjew nehmen an der Feier auf dem Roten Platz in Moskau teil. © picture alliance / dpa / Michael Klimentyev
Owen Matthews im Gespräch mit Liane von Billerbeck |
Der Schriftsteller Owen Matthews begibt sich mit seinem Roman "Winterkinder" auf Spurensuche. Sein ukrainischer Großvater war Offizier beim russischen Geheimdienst und wurde ermordet. Matthews recherchierte dafür alte Akten. Der gebürtige Engländer sagt heute, Putin wolle die ehemalige sowjetische Größe zurück.
Liane von Billerbeck: Der Großvater war ein überzeugter Kommunist, kämpfte in der damaligen Sowjetrepublik Ukraine für die Idee vom neuen Menschen und wurde doch einer von Hunderttausenden, die vom Stalinschen Terror zermalmt wurden. Seine beiden Töchter wurden in Waisenhäuser gesteckt, voneinander getrennt und fanden sich schließlich durch einen glücklichen Zufall wieder. Eine der beiden verliebte sich in einen Engländer und getrennt durch den Eisernen Vorhang schrieben sich die beiden jahrelang Briefe, bis es über einen sogenannten Agentenaustausch gelang, doch noch in England zusammenzukommen.
Owen Matthews ist ihr Sohn, der Journalist hat die Geschichte seiner Familie aufgeschrieben und sein Buch "Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg", das ist jetzt auf Deutsch erschienen. Wir wollen den Autor fragen, der heute als "Newsweek"-Korrespondent in Istanbul lebt, wie er mit dem Wissen um seine Familiengeschichte den aktuellen Konflikt in Russland und der Ukraine sieht. Owen Matthews, herzlich willkommen.
Owen Matthews: Hallo, Liane. It‘s great to be here.
von Billerbeck: Sie erzählen die mehr als tragische Geschichte Ihrer Familie. Trotzdem scheint da immer diese Liebe zur russischen Sprache und zu Russland durch. Was bedeutet Ihnen Russland?
Matthews: Ja, leider sind die meisten russischen Geschichten tragisch. Das ist etwas von dem Traurigen, was Russland anhaftet. Aber bei all dieser Tragik gibt es doch dieses Bemühen, sich nicht unterkriegen zu lassen. Mein Buch erzählt die Geschichte des 20. Jahrhunderts als Familiengeschichte, gesehen mit den Augen meiner Mutter, die 1932 in der Ukraine geboren wurde.
Ich zeige auch, wie die Russen in der gesamten Geschichte immer wieder unterdrückt, zermalmt, in den Wind geworfen wurden durch diese riesigen Kräfte der Weltgeschichte, etwas, worauf sich sicher die Deutschen der älteren Generation auch durchaus besinnen können. Diese tektonischen Urkräfte, die Menschen auseinandertreiben, werden hier spürbar, und das wäre sicherlich etwas, was viele meiner Generation heute nicht mehr ertragen würden.
Russland hat immer wieder diese extreme Achterbahnfahrt erlebt. Immerhin kann ich ja, ohne jetzt hier etwas zu verraten, doch sagen, dass die Geschichte ein glückliches Ende hat, denn mein Vater und meine Mutter heirateten und ich wurde in London geboren. Das heißt, in all dieser Tragik ist doch immer wieder etwas, was darüber hinausgeht und stärker ist.
Russland in den 1990ern: "Völlig entwurzelte Gesellschaft"
von Billerbeck: Sie haben in den 90er-Jahren auch in Russland gelebt, als Korrespondent für die "Times", für den "Spectator", für "Independent". Was war das damals für eine russische Gesellschaft?
Matthews: Das Buch umfasst ja drei Generationen von Liebe und Krieg. In diesem Teil schildere ich dann meine eigene Lebensgeschichte, denn ich bin ja in London aufgewachsen und ging dann 1995, wie Sie sagen, nach Moskau. Ich erlebte eine Gesellschaft, die völlig entwurzelt war, wo kein Begriff mehr von Moral und Anstand zu spüren war. Alles das, was vorher galt, war nun außer Kraft gesetzt. Es war eine Gesellschaft im Wertevakuum, wo all die hochgestellten Banditen und Gauner sich bereicherten, während ein Kernphysiker verarmt war.
Wir als internationale Zureisende genossen jede Menge an Privilegien. Wir waren wohlhabend und wir hatten einfach eine spannende und äußerst amüsante Zeit, und genauso erlebten die Russen meiner Generation jene Jahre auch als spannende und amüsante Zeit. Da sonst nichts galt, galt es eben nur, möglichst viel Geld, möglichst viel Spaß, Sex und Macht zu erringen, da man sonst nichts hatte, worauf man sich richten konnte.
von Billerbeck: Wenn Sie an diese Zeit zurückdenken, als Sie dort selbst als junger Mann in Russland waren, wie haben Sie erlebt, dass die Zeit der Sowjetunion nachwirkte?
Matthews: Ich habe damals die Sowjetunion in ihrer Nachwirkung sehr viel schwächer erlebt als heute. Damals war die Sowjetunion eine Art furchtbares Unglück. Alles war falsch. Und heute, 20 Jahre später, sehe ich sehr viel stärker die Nachwirkung oder die Rückbesinnung auf die Sowjetunion als damals. Dieser damalige Gedächtnisverlust ist nun eine Rückbesinnung auf das Große der damaligen Zeit, erstens weil das Leben doch damals so schön gewesen sei, und auch, weil man diese Macht innehatte. Dieser wiederauferstandene Geist des Toten ist heute in Moskau, 2014, sehr viel deutlicher zu spüren als damals, 1995.
Zugang zu Geheimdienstakten, weil Großvater in Ukraine starb
von Billerbeck: Damals, als Sie da waren, gab es auch eine Zeit der Öffnung, auch eine Öffnung der Archive. Davon haben ja viele Ihrer Kollegen profitiert, von Simon Sebag Montefiore bis Orlando Figes, die Bücher über Stalin und die Denunziation in der Stalin-Zeit geschrieben haben. Wie waren denn Ihre Erfahrungen bei der Recherche?
Matthews: Ich war in einer glücklichen Lage. Mein Großvater war ja Funktionär der Kommunistischen Partei und wurde 1937 in Kiew erschossen. In der Ukraine sind seit damals alle Akten des Geheimdienstes öffentlich zugänglich, im Gegensatz zu Russland. In der Ukraine hat man sogar das verfassungsmäßige Recht, Einblick in seine Geheimdienstunterlagen zu nehmen, ähnlich wie nach dem deutschen Stasi-Gesetz. Wenn mein Vater in Moskau erschossen worden wäre, hätte ich diese Zugangsmöglichkeit nicht gehabt.
Wir haben also alles lesen können, mit einer Ausnahme: Ich saß da zusammen mit einem Sicherheitsbeamten im Archiv nebeneinander und er half mir bei der Entzifferung dieser oft schwer zu lesenden alten Handschrift. Es gab nur einen Teil, der mit einem Klebeband verschlossen war, und da wir nur beide alleine da waren, fragten wir, was mag das wohl sein. Er sagte dann, öffnen wir diesen Teil doch.
Und es stellte sich heraus: In diesem verschlossenen Teil waren alle diese Befunde zu den KGB-Offizieren, die damals meinen Großvater beschuldigt, die ihn verhaftet und auch hingerichtet hatten. All diese Offiziere des KGB waren selbst dann im Jahre 1939 ums Leben gekommen. Die Revolution hatte also ihre eigenen Kinder gefressen. Es war schon bezeichnend, dass auch noch in den 90er-Jahren eben dieser eine Teil, wo der Geheimdienst der Ukraine seine eigenen Leute schützte, noch verschlossen war. Es zeigt sich, dass da Hunderte von Menschenleben in Akten noch nachvollziehbar waren, aber all diese Menschen hatten ihr Leben verloren. Von ihnen war nichts mehr geblieben, außer diesem Aktenvermerk.
"Schlimmste Kriege oft zwischen den engsten Nachbarn ausgefochten"
von Billerbeck: Der Autor Owen Matthews ist mein Gast hier in Deutschlandradio Kultur. Unter dem Titel "Winterkinder" ist seine bewegende Familiengeschichte jetzt auf Deutsch im Graf-Verlag erschienen. Wenn wir Ihre Familiengeschichte angucken, die in der Ukraine spielt, in Russland, in England, wieder in Russland, und Sie beobachten die Ereignisse, die jetzt passieren in Russland, in der Ukraine, wie sehen Sie da den Zusammenhang? Stellen Sie den her zwischen Ihrer Familiengeschichte und der gegenwärtigen politischen Lage?
Matthews: In der Tat. Immerhin war einer der Vorfahren meiner Ehefrau ein General, der damals für Katharina die Große an der Kapitulation der Krim-Tataren im Jahr 1782 mitgewirkt hat. Es ist jetzt die Tragödie in dem, was jetzt gerade geschieht, dass die schlimmsten Kriege oft zwischen den engsten Nachbarn ausgefochten werden. Das Absurde, ja das Verbrecherische an dieser Politik, die Putin ins Werk setzt, ist eben, dass er einen Konflikt schafft, für den es vorher überhaupt keine Grundlage gab.
Ihn treibt im Grunde eine Sowjet-Nostalgie an. Es ist die Fantasie eines 60 Jahre alten Mannes, die von den meisten Männern seines Alters geteilt wird, so etwas wie eine sowjetische Größe wiederherzustellen, und das ist aber im Grunde eine Wiederholung als Farce. Wie wir wissen, wiederholt sich die Geschichte erst als Tragödie, dann als Farce, und man versucht, hier wieder etwas zu restaurieren, und tut das genaue Gegenteil dessen, was eine Großmacht eigentlich tun sollte.
Russland erschöpft sich jetzt in seiner Politik in einer Art Wiederaufwärmung der Klischees von einstiger Größe. Dabei liegen die Großtaten wirklich schon mindestens ein halbes Jahrhundert zurück. Zweierlei große Leistungen hat Russland vollbracht: Den Sieg im Zweiten Weltkrieg und die Weltraumfahrt Juri Gagarins 1961. Aber das liegt jetzt schon mehr als ein halbes Jahrhundert zurück und seither hat Russland keine große Leistung mehr vollbracht.
"Ich liebe Russland"
von Billerbeck: Eine kurze Frage zum Schluss noch. Jeder Ausländer, der in der Sowjetunion oder in Russland, je nachdem wann er dort war, gelebt hat, selbst wenn er mit Hassgefühlen das Land verlassen hat, selbst wenn er es satt hatte, behält eine große Sehnsucht nach Russland. Geht Ihnen das auch so?
Matthews: Ganz sicher ist das so. Ich liebe Russland. Es ist tief in mir verwurzelt. Und der Grund, weshalb ich überhaupt nach Russland damals umsiedelte und warum ich auch das Buch geschrieben habe, war eben, dass mir etwas fehlte dort in England. Ich wollte einfach auch verstehen, was eigentlich um mich herum vorging. In den Ruinen des Kommunismus versuchte ich, auch meine Familiengeschichte ganz zu machen und zu verstehen, wie meine Mutter in England leben konnte, wie es weiterging für die Familie.
All diese Wunden, die man mit sich trägt und die auch die Kinder Russlands mit sich tragen, sind etwas, was man eben nicht abschütteln kann, und das zeigt sich auch in diesem ständigen Wunsch, noch eine Beziehung zu Russland zu pflegen oder wiederherzustellen, einfach weil Russland als Land so überwältigend, so machtvoll ist, so groß in seiner Geschichte, in der Kultur, in der Begegnung mit den Menschen.
Dass alle Russen, auch die ausgewanderten immer noch eine Art Sehnsucht nach ihrer verlorenen Heimat haben, das ist selbst für mich, für einen Abkömmling Russlands in der zweiten Generation so. Auch ich verspüre diese Macht, diese Sogwirkung, die Russland auf die Welt ausübt, und Sie haben ja auch die Ausländer in Russland erwähnt. Auch sie spüren das, sie sehen sich hingezogen oder hineingezogen in dieses Universum, das Russland ist, wo alles größer ist und die Landschaft weitere Entfernungen hat, wo die Menschen stärker leiden, stärkeres Glück empfinden, wo das Klima mehr zu Extremen neigt, wo alles riesig und überwältigend ist.
von Billerbeck: Der Autor Owen Matthews war das. Unter dem Titel "Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg" ist seine Familiengeschichte jetzt im Graf-Verlag erschienen. Danke für das Gespräch, das Johannes Hampel übersetzt hat.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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