"Konfrontation liegt nicht im Interesse der Russen"
Ein Szenario wie auf der Krim ist nach Einschätzung von Tim Guldimann für den Osten der Ukraine in unmittelbarer Zukunft nicht zu erwarten. Der Sondergesandte der OSZE warnte im Deutschlandradio Kultur zudem vor zu viel Einmischung der internationalen Staatengemeinschaft in die inneren Angelegenheiten der Ukraine.
Deutschlandradio Kultur: Tim Guldimann ist amtierender Botschafter der Schweiz in Berlin und außerdem seit wenigen Wochen Sonderbeauftragter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit für Europa für die Ukraine.
Herr Botschafter, ich freue mich sehr, dass Sie trotz eines sehr engen Terminkalenders den Weg ins Studio gefunden haben. – Herzlich willkommen.
Tim Guldimann: Danke. Guten Tag.
Deutschlandradio Kultur: Dann beginnen wir mal mit ein paar Schlagzeilen, die diese Woche in den überregionalen deutschen Zeitungen standen. Beispielsweise titelt die FAZ: „Der Westen will Russland weiter isolieren“. Barack Obama wird überall mit den Worten zitiert: „Putin muss für die Krim bezahlen.“ Und in einem abgehörten Telefonat wettert die ukrainische Ex-Regierungschefin Julia Timoschenko gegen „die Russen“. Man müsse „zu den Waffen greifen und die Russen fertig machen, zusammen mit ihrem Anführer“.
Die Drohgebärden werden immer schärfer. Trägt denn der Westen eine Mitverantwortung an der verfahrenen Situation?
Tim Guldimann: In der heutigen Situation gibt es zwei Aspekte, die man voneinander getrennt sehen muss. Das eine ist die Frage der Krim. Die OSZE, das heißt, der Vorsitzende und schweizerische Bundespräsident hat in zwei Erklärungen klargestellt zum einen, dass das Referendum, die Verfassung der Ukraine verletzt, und das zweitens die Einverleibung der Krim in die Russische Föderation das Völkerrecht verletzt.
Das ist eine Ausgangslage, die bedeutet, dass hier grundsätzliche Regeln der politischen Ordnung in Europa seit der Helsinki-Akte 1972 und dann vor allem nach dem Fall der Berliner Mauer verletzt worden sind. Das gibt Anlass für – wie Sie das angedeutet haben – eine harte Haltung des nunmehr wieder als Westen bezeichneten Lagers der Länder, die bekannt sind.
Das andere ist die Frage: Was geschieht in der Ukraine selbst, insbesondere mit dem Osten? Und hier stellt sich die Frage: Wie kann diese Situation stabilisiert werden? Wie kann vermieden werden, dass die politische Konfrontation, die sich auch hier andeutet, unter Kontrolle gebracht wird.
Deutschlandradio Kultur: Es gibt ja auch Stimmen, die sagen: In den letzten Jahren hätte die Nato Russland nach Ende des Kalten Krieges mit der Osterweiterung auch in Bedrängnis gebracht und man müsse und könne das irgendwie verstehen, dass die Russen sich auf diese Art und Weise, auch wenn es völkerrechtlich nicht in Ordnung ist, wehren wollten. Haben Sie dafür Verständnis?
Situation zwischen Ost und West ganz anders als nach dem Krieg
Tim Guldimann: Also, es geht aus meiner Sicht nicht ums Verständnis, sondern es geht darum, dass man sieht, was passiert ist. Die Situation ist nicht die Nachkriegssituation zwischen Ost und West, zwei sozusagen gleichwertige Positionen, sondern es ist auch die Situation von Russland nach 1989. Und von russischer Seite ist mir darauf hingewiesen worden, dass doch der Nato-Generalsekretär Wörner gesagt habe, die Nato-Ostgrenze werde nicht verschoben.
Ich hab' dann nachgefragt, der habe das nicht genauso gesagt. Es geht jetzt nicht um die Frage, was da genau gesagt worden ist, sondern um die Perzeption in Moskau, der Bedrängnis seitens der Nato, die über die Osterweiterung näher an die russische Grenze gekommen ist. Von daher gibt es dieses Gefühl in Russland einer Bedrängnis. Aber das rechtfertigt überhaupt nicht, dass man deswegen das Völkerrecht bricht.
Deutschlandradio Kultur: Aber kann man vielleicht Lehren aus der Geschichte ziehen? Ich nenne Ihnen mal ein Beispiel. Zu Zeiten des Kalten Krieges gab es ja auch zwei Lager, die sich gegenseitig hoch geschaukelt haben, wie wir das im Moment in Ansätzen vielleicht auch erleben. Könnte es vielleicht sein, dass damals Michael Gorbatschow den Schritt zu Perestroika und Glasnost wagte, gerade weil sich die Situation so verändert hatte, dass sich Russland, oder damals die Sowjetunion, nicht mehr bedroht fühlte? Wäre das vielleicht ein Muster, um Entspannung reinzukriegen?
Tim Guldimann: Das mag sein. Die Frage ist mehr: Wie geht man jetzt mit Russland um – zum einen auf der Grundlage dieser, wie gesagt, Völkerrechtsverletzung, andererseits aber auch quasi, inwiefern ist es möglich, Russland gegenüber respektvoll umzugehen? Das ist für die Russen ein wichtiger Aspekt, so wie ich das immer erlebt habe in der Zusammenarbeit mit russischen Diplomaten. Wichtig war ihnen, wie mir schien, erstens, dass man sie gleichwertig behandelt, sehr offen behandelt, dass es verlässlich ist und dass sie sich nicht in irgendeiner Weise hintergangen oder ausgegrenzt fühlen.
Wenn dem so ist, war meine Erfahrung, war es eigentlich immer recht gut möglich, mit ihnen zu sprechen. Ich habe das beispielsweise während meiner Zeit als Leiter der OSZE-Mission in Kroatien erlebt, wo es darum ging, die so genannte internationale Gemeinschaft, das heißt, die Haltung der anderen Staaten gegenüber Kroatien, so zu koordinieren, dass man eine Position hatte. Das war auf Seiten der USA und teilweise EU nicht möglich, quasi sofort die Russen da voll einzubeziehen. Und ich habe darauf geschaut, dass jedes Mal eine Absprache und eine Information mit der russischen Seite erfolgte. Das ermöglichte dann auch eine Zusammenarbeit.
Respektvoller und gleichwertiger Umgang ist den Russen wichtig
Deutschlandradio Kultur: Sie waren auch in den 90er-Jahren Botschafter und Leiter der OSZE-Mission in Tschetschenien, danach in Kroatien, Kosovo. Sie waren auch Schweizer Botschafter im Iran und haben immer mit der russischen Seite auch verhandelt. Gibt es denn besondere Konfliktvermeidungsstrategien, was Russland betrifft, die möglicherweise jetzt noch greifen können. Gibt es noch Kanäle nach Moskau, die funktionieren?
Tim Guldimann: Die Kanäle gibt es selbstverständlich. Ich meine, die sprechen ja miteinander. Lawrow war ja in Den Haag und hat auch mit westlichen Diplomaten und Außenministern gesprochen. Also, es ist nicht so, dass man nicht miteinander spricht. Die OSZE bildet dadurch einen privilegierten Rahmen, weil sich im Rahmen dieser Organisation 57 Staaten quasi gleichberechtigt einigen und alles, was dort passiert auf dem Konsensverfahren dafür garantiert, dass nicht jemand ausgegrenzt wird. Das gibt für Moskau die Möglichkeit, im Rahmen der OSZE gewisse Probleme so anzugehen, dass sie wissen, jeder Schritt ist ein Schritt der Organisation, mit dem wir uns einig erklären können.
Deutschlandradio Kultur: Das scheint ja auch die einzig gute Nachricht der letzten Tage z sein, dass auch Russland dieser OSZE-Mission in der Ukraine zugestimmt hat, die es sonst ja gar nicht gegeben hätte. Kommt eigentlich jetzt auf die OSZE eine Schlüsselaufgabe zu?
Tim Guldimann: Also, es geht um Folgendes: Bis zum letzten Freitagabend gab es eine sehr intensive Diplomatie auf höchster Ebene, wo es darum ging, einen Entscheid in der OSZE durchzubekommen, der die Entsendung einer Beobachtermission vorsieht. Dieser Entscheid wurde dann gefällt mit der Zustimmung der Russen. Aber man muss immer sehen, es geht hier nicht nur um Russen. Es geht auch um andere Regierungen, die im Vorfeld dieses Entscheides auch gewisse Forderungen stellten, die dann erfüllt oder überwunden werden mussten. Also, es war nicht nur einseitig alle gegen Russland und am Schluss haben die Russen zugestimmt. Das ist vielleicht ein falsches Bild. – Aber das ist klar Gegenstand eines solchen Prozesses, wo alle dabei sein müssen.
Deutschlandradio Kultur: Welches Interesse hat eigentlich Russland an dieser Beobachtermission? Das russische Außenministerium hat beispielsweise die Erwartung geäußert, dass diese Mission zu einer Beendigung des – so wörtlich – „ungezügelten nationalistischen Banditentums“ führen müsste und „ultraradikale Entwicklungen“ eingedämmt werden müssen. Das macht die Sache doch nicht so richtig leicht, oder?
Nationalistische Kräfte in der Gegend um Lemberg
Tim Guldimann: Ich glaube, das zeigt ja auch die Bedeutung einer solchen Mission. Die besteht darin, dass anfänglich hundert, nachher vierhundert internationale Beobachter im ganzen Land verteilt beobachten, aufnehmen. Und hier geht es darum, dass nicht nur einseitig geschaut wird, beispielsweise im Osten, was dort passiert in der Auseinandersetzung, sondern auch in anderen Gebieten, beispielsweise im Westen, in der Region von Lwiw oder Lemberg, wo es nationalistische Kräfte gibt, wo es auch Berichte gibt von Ausschreitungen gewaltsamer Natur gegen Regierungsinstitutionen oder beispielsweise ein Büro der kommunistischen Partei. Wir können das nicht überprüfen, es sei denn, in Zukunft werden wir dann dort Beobachter haben, die das auch wahrnehmen.
Das heißt, eine solche Mission, hat man oft gesagt, ist wie die Augen und Ohren der so genannten internationalen Gemeinschaft, die vor Ort erstens allein schon über ihre Präsenz vielleicht stabilisierend wirken, dann aber vor allem schauen, was passiert und inwiefern widerspricht das, was passiert internationalen Prinzipien oder lokaler Gesetzgebung oder Verpflichtungen der Regierung gegenüber beispielsweise der OSZE im Rahmen der Charta oder auch den Resolutionen des Europarates. Das bildet alles so quasi einen Referenzrahmen anhand dessen untersucht werden muss, wie sich die Situation entwickelt und auch was die lokale Regierung diesbezüglich tut.
Deutschlandradio Kultur: Es gibt aber einen Makel, dass die Mission auf der Krim nicht stattfinden kann, weil die Russen den Teil annektiert haben. Belastet das nicht die Zusammenarbeit mit den Russen?
Tim Guldimann: Also, der Entscheid für den Einsatz dieser Mission sagt nicht explizit, die Krim ist ausgeschlossen. Sie sagt auch nicht implizit. Oder sie sagt auch nicht klar das Gegenteil, dass die Mission auf die Krim gehen kann. Es ist möglich, dass es in Zukunft stattfindet. Im Moment kann man das nicht sagen, jetzt in jedem Falle nicht in der unmittelbaren Zukunft.
Die Frage, ob das die Mission belastet: Wie gesagt, es sind diese beiden Aspekte. Das eine ist die Situation auf der Krim, die überhaupt die Beziehung zu Moskau von Seiten westlicher Regierungen stark belastet, das ist erwähnt worden, zum anderen die Frage: Inwiefern kann eine solche Mission beitragen für die Stabilisierung im Land?
„Ein Szenario wie auf der Krim ist in der unmittelbaren Zukunft im Osten des Landes nicht zu erwarten“
Ich war letzte Woche im Osten in Charkow, in Lugansk, in Donezk und ich habe feststellen können, dass die Situation recht gespannt ist. Es gab auch teilweise gewalttätige Ausschreitungen, aber quasi ein Szenario wie auf der Krim ist in der unmittelbaren Zukunft nicht zu erwarten. Das ist dem zuzuschreiben, dass der große Teil der Bevölkerung sich zwar eine sehr gute Nachbarschaft mit Russland wünscht. Russland ist auch ganz entscheidendfür die ganze Wirtschaft dieses Teils. Es gibt einen kleinen Teil der Bevölkerung, die eine Integration in die Russische Föderation begrüßen würde, aber wenn man mit den Behörden spricht, von welcher politischen Position auch immer, ist klar, dass sie die Zukunft des Ostens im Rahmen des ukrainischen Staates sehen und auch klar gesagt haben, die Präsidentschaftswahlen vom 25. Mai, da geht man jetzt daran die zu organisieren.
Deutschlandradio Kultur: Herr Botschafter, Aufgabe der Experten vor Ost ist es, unparteiisch Informationen über die Sicherheitslage und den Schutz der Minderheiten in der Ukraine zu sammeln. – Kann das gelingen? Bekommen die Leute vor Ort die richtigen Gesprächspartner? Haben sie die Kraft auch ein Einfluss zu nehmen?
Tim Guldimann: Ich glaube nicht, dass den Beobachtern der Zugang verweigert wird. Ich habe nicht den Eindruck von meinen eigenen Erfahrungen vor Ort. Es besteht die Möglichkeit, sowohl zu den Behörden im Kontakt zu stehen, die klar gesagt haben, sie begrüßen sehr die Präsenz internationaler Beobachter, als auch mit Vertretern der Zivilgesellschaft verschiedener Parteien – auch ausländischen Diplomaten. Das waren die Kontakte, die wir gehabt haben. Da sehe ich kein großes Problem.
Man kann sich natürlich fragen, inwiefern eine Zahl von anfänglich 100, später dann 400 Beobachtern ein Land mit 45 Millionen Einwohnern in dem Sinne beobachten kann. Das ist ganz klar, dass das lediglich punktuell vor allem auch dort, wo kritische Situationen entstehen, möglich sein wird. Das, was man beobachten kann, da kann man behaupten, es ist eine unparteiische, objektive Arbeit und Berichte, die dann geschrieben werden können. Da sehe ich nicht das Problem.
Das Problem ist vielleicht einfach in der Größe des Landes und in der Größe der auf dem Spiel stehenden Interessen beziehungsweise Konflikte.
Deutschlandradio Kultur: Wer sucht eigentlich die Gesprächspartner aus? Können das die Experten vor Ort tun und müssen sie dann auch möglicherweise mit ukrainischen Oligarchen reden, die teilweise ja auch sehr tief in Korruptionsskandale verstrickt sind?
Man muss mit allen sprechen - auch mit den Oligarchen
Tim Guldimann: Ich wäre der Ansicht, dass man mit allen sprechen muss. Es gibt natürlich Machtstrukturen. Die sind auch wirtschaftlich geprägt. Insbesondere in einer Gesellschaft, das hat man ja auch gesehen in allen osteuropäischen Gesellschaften, die den Schritt von einer sozialistischen Planwirtschaft zur Marktwirtschaft gemacht haben, dass dort die Gesetzmäßigkeit nicht jedes Schrittes garantiert werden konnte. Es war ja nicht mal in verschiedenen Fällen klar, was ist legal, was ist nicht legal. Und dass sich viele Leute bereichert haben, ist auch eine Tatsache und dass diese Personen heute eine wichtige Rolle spielen, natürlich auch. Ich glaube, es ist wichtig, dass man mit allen spricht.
Die Frage, ob man Einfluss ausübt: Ich glaube, es geht zuerst einmal darum einfach festzustellen, was passiert, und dass man das, was vor Ort vorgeht, dann objektiv berichten kann. Dann ist klar, dass das dann jenen, vor allem auch Regierungen zur Verfügung steht, die in Kontakt mit den Behörden, sowohl in der Ukraine als auch mit anderen Regierungen stehen. Ich glaube es geht darum, nicht direkt über eine solche Mission sich einzubilden, man könne das Problem lösen, sondern dass man dort feststellen kann, wo sind die Probleme und was muss auf höherer Ebene angegangen werden.
Deutschlandradio Kultur: Sie hatten es vorher auch genannt, es geht auch um die Beruhigung der Situation, um vertrauensbildende Maßnahmen. Sie haben den 25. Mai genannt, also die Präsidentschaftswahl in der Ukraine, dass die frei und ohne Manipulation stattfinden kann. Wir wären alle sehr froh und glücklich darüber, wenn die Wahlen so stattfinden würden. Jetzt nehmen wir mal den Fall an, dass die Ukraine sich dafür entscheidet, sich stärker an den Westen zu binden. Wird Putin dem dann zustimmen?
Tim Guldimann: Ich glaube, das Erste ist die Frage, inwiefern eine Stabilisierung so möglich ist, dass diese Wahlen auch frei und fair, wie man das nennt, stattfinden können. Das Positive ist, dass ich im Osten des Landes das Wort „Boykott“ nicht gehört habe. Das heißt, es ist auch selbst von sehr russlandfreundlichen Kreisen im Moment nicht die Rede davon, dass man zu einem Boykott aufruft. Es ist möglich, dass das noch kommt. Das könnte die Sache erschweren. Wichtig ist, dass man jetzt in den nächsten Wochen in den Bereichen, die kritisch sind, eine Stabilisierung zumindest erreichen kann.
Da geht es um zwei Fragen: Das eine ist, wir haben im Osten überall gehört, dass sie sagen, die hören nicht auf uns in Kiew. Das heißt, die Beziehungen zwischen der zentralen Regierung in Kiew und der Region waren schon zuvor unter der Regierung Janukowytsch schwierig, selbst wenn er quasi die Interessen des Ostens vertrat, und jetzt mit dieser neuen Regierung in Kiew auch. Der Ministerpräsident hat Schritte für eine Zentralisierung angekündigt. Hier ist es wichtig, dass konkrete Schritte stattfinden, die ein neues Vertrauen in die Zentralregierung schaffen im Osten, so dass die spüren, wir sind Teil der ukrainischen Politik. Das ist das Eine.
Das Zweite, was auch sehr schwierig ist, ist die wirtschaftliche und soziale Situation im Osten. Da ist die Frage, inwiefern die Maßnahmen, die angekündigt werden im Zusammenhang auch mit den Diskussionen mit dem Währungsfond, zu Einschränkungen führen und inwiefern diese da stabilisierend könnten. – Ich glaube, das sind jetzt die unmittelbaren Probleme.
Die wirtschaftliche Situation muss stabilisiert werden
Die Frage für danach ist natürlich eine grundsätzliche Problematik, inwiefern die Ausrichtung der Ukraine nach Westen an die Europäische Union, vielleicht sogar an die Nato, Interessen Russlands widersprechen und wie Moskau darauf reagiert. Ich glaube, hier wäre es die Frage, inwiefern es gelingt, die wirtschaftliche Situation zu stabilisieren – und das auch mit entsprechendem Entgegenkommen von der Europäischen Union, was nicht dem widersprechen müsste, was das russische Interesse ist hinsichtlich der engen Zusammenarbeit im Osten. Aber hier ist natürlich Konfliktstoff und es besteht die Hoffnung, dass das so angegangen werden kann, dass zuerst einmal die Stabilisierung im Vordergrund steht und man sich nicht sofort überlegt, wie die weitere Ausrichtung der ukrainischen Politik diese Stabilisierung belasten könnte.
Deutschlandradio Kultur: Aber man muss ein bisschen in die Zukunft schauen. Jetzt hat beispielsweise Henry Kissinger, der ehemaligen Außenminister der USA, gesagt, „die Ukraine müsse vorläufig als ein historisch und politisch positioniertes Land zwischen Europa und Russland begriffen werden“. Auch Elmar Brok, der CDU-Europapolitiker, sagt: „Der Westen soll die Neutralität der Ukraine anerkennen.“ – Ist das überhaupt realistisch, so ein Szenario nach den Erfahrungen mit der Krim und auch mit dem Assoziierungsabkommen?
Tim Guldimann: Ich glaube, entscheidend ist, dass die Ukrainer selbst bestimmen können, was sie wollen, und dass es sehr gefährlich ist, von außen zu sagen, was gut ist für die Ukraine. Das hätte man hierzulande auch nicht gerne und in anderen Ländern auch nicht. Ich glaube, da spüre ich in den Gesprächen in Kiew eine klare Zurückhaltung gegenüber Ideen, wohin sich das Land entwickeln soll.
Und ich glaube, so viel Vertrauen muss man dem souveränen Staat entgegenbringen, dass man zwar sagen kann, wenn ihr das tut oder das tut, gibt es diese und diese Schwierigkeiten, aber direkt hinzugehen und zu sagen, schaut, das außenpolitische Programm für die Ukraine sieht so oder so aus, ich glaube, das ist in der Kompetenz der Ukraine, das selbst zu entscheiden.
Deutschlandradio Kultur: Jetzt will es der Zufall, dass gerade und ausgerechnet die Schweiz den OSZE-Vorsitz turnusmäßig für ein Jahr hat. Ihr Land vertritt seit März 2009 auch die diplomatischen Interessen Georgiens in Moskau und die Interessen Russlands in Tiflis. Außerdem ist die Schweiz stolz darauf, sich immer als Willensnation zu begreifen, also als bewusste, gewollte Gemeinschaft von Bürgern unterschiedlicher ethnischer Herkunft. – Ist das vielleicht ein Modell, wo Sie mehr Kraft reinbringen können, weil Sie das Leben, also diesen Versuch als Bürgergesellschaft mit unterschiedlichen Ethnien zusammenzuleben, kennen?
Tim Guldimann: Man muss da sehr aufpassen, wenn man die eigenen historisch gewachsenen Überzeugungen und die eigene politische Kultur als etwas sieht, was exportiert werden soll. Ich wäre da sehr zurückhaltend.
Sie haben die Funktion der Schweiz in Georgien erwähnt. Das hängt natürlich damit zusammen, dass die Schweiz nicht Nato-Mitglied ist. Aus dieser Tradition der Neutralität heraus gibt es gegenüber Moskau eine Position, die unter Umständen akzeptabler ist – gerade auch für solche Aufgaben im Rahmen der OSZE. Ich glaube, hier gibt es einen Vorteil von der Schweiz aus gewisse Positionen einzunehmen, was nicht bedeutet, dass unser Bundespräsident dann, wie schon erwähnt, im Falle der Krim klar gesagt hat, welche nationalen und internationalen Prinzipien verletzt wurden. Also, hier stellt sich überhaupt nicht die Frage der Neutralität, sondern die Frage: Wie werden die Prinzipien und Grundsätze, die man gemeinsam im Rahmen der OSZE unter den Mitgliedsstaaten vereinbart hat, beachtet oder werden die verletzt?
Aber das andere ist, dass die Schweiz jetzt mit dem Vorsitz der OSZE eine Rolle spielen kann, wo wir glauben, es ist möglich, dass die OSZE der internationale Rahmen wird innerhalb dessen sich die Problematik in der Ukraine besser behandeln lässt.
Deutschlandradio Kultur: Bill Clinton hat einmal gesagt: „It’s the economy, stupid!“ Wenn wir auf die Ukraine blicken, wissen wir, dass diesem Land der finanzielle Kollaps droht. 35 Milliarden braucht das Land in den nächsten beiden Jahren, um irgendwie über die Runden zu kommen, einen großen Teil davon schon in diesem Jahr. – Sind es am Schluss vielleicht dann doch wirtschaftliche Faktoren, die die weitere Entwicklung in der Region bestimmen?
Politische Konflikte haben auch einen ökonomischen Hintergrund
Tim Guldimann: Also, ich finde es sehr wichtig, dass Sie darauf hinweisen, dass die politische Destabilisierung und die politischen Konflikte natürlich auch einen ökonomischen Hintergrund haben. Hier zeigt sich auch, wie disparat diese Interessen innerhalb der Ukraine laufen. Das sieht man dem Osten gegenüber und den anderen Gebieten der Ukraine. Im Osten haben wir eine Wirtschaft, die aus sowjetischer Zeit stark auf Russland ausgerichtet ist. Und das Interesse besteht, diese engen Beziehungen aufrechtzuerhalten, um sicherzustellen, dass der russische Markt, der für diese Wirtschaft dort entscheidend ist, auch wirklich offen bleibt – von daher auch eine politische Orientierung, die nicht die gleiche ist wie im Westen des Landes.
Aber, wie gesagt, es ist auch ein großes strukturelles Problem, mit dem das Land konfrontiert ist und im Moment dringend darauf angewiesen ist, dass mit neuen Krediten die Sache stabilisiert werden kann.
Deutschlandradio Kultur: Von welcher Seite aus? Russland, indem man Schulden erlässt, oder vom Westen, der dann sagt, ja, wir helfen euch und geben euch Kredit?
Tim Guldimann: Ja, ich glaube, die Hoffnung besteht, dass von allen Seiten eine Nachsicht in dem Sinne passiert, dass man versucht oder einsieht, dass die Stabilisierung, die politisch im Interessen aller liegt, davon abhängt, inwiefern die wirtschaftliche und soziale Situation so garantiert werden kann, dass das nicht Anlass zu politischer Konfrontation innerhalb des Landes geben kann.
Deutschlandradio Kultur: Der amerikanische Präsident Barack Obama hat nochmal betont in dieser Woche, dass er entschlossen wäre, die USA und Europa gemeinsam, Wirtschaftssanktionen gegen Russland auszusprechen. – Ist das denn unter den Maßgaben, von denen wir geredet haben, dann ein Holzweg oder eine notwendige Maßnahme, um Russland zum Einlenken zu zwingen?
Tim Guldimann: Nochmals: Hier gibt es diese beiden Baustellen. Das eine ist die Frage: Wie geht man mit dem Bruch des Völkerrechtes auf der Krim um und damit auch mit der generellen Haltung gegenüber Moskau von Seiten der westlichen Regierungen? Die haben das zu entscheiden.
Die andere Frage ist: was kann man tun für die Stabilisierung der Ukraine, wo man davon ausgehen kann, dass das im gemeinsamen Interesse ist? Denn ich bin überzeugt, eine Destabilisierung, eine Konfrontation innerhalb der Ukraine kann auch nicht im Interesse der Russen liegen. Also, wenn man diese beiden Dinge sieht, dann besteht vielleicht die Hoffnung, dass man über das Zweite auch mit Moskau sprechen kann und sicherstellen kann, dass die Schritte, die man unternimmt, nicht eskalierend wirken, sondern dazu angetan sind, innerhalb der Ukraine einen Konsens zu sichern.
Deutschlandradio Kultur: Herr Botschafter, ganz herzlichen Dank für das Gespräch.