Krieg in der Ukraine

Wege aus der Eskalation

53:43 Minuten
Ukrainischer Soldat auf einem Panzer in einer kriegszerstörten Straße in Irpin
Die ukrainischen Streitkräfte bleiben angewiesen auf Unterstützung aus dem Ausland. © picture alliance / abaca
Moderation: Birgit Kolkmann |
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Seit in Butscha nach Abzug der russischen Armee Hunderte getöteter Zivilisten gefunden wurden, wollen NATO, EU und Bundesregierung die Ukraine in ihrem Abwehrkampf energischer unterstützen. Doch über das "Wie" wird noch debattiert.
Die Osteuropa-Expertin und Mitgründerin des Zentrums Liberale Moderne, Marieluise Beck, hält es für dringend geboten, der ukrainischen Armee jetzt „möglichst viele Waffen“ zu liefern, um „möglichst viele Zivilisten vor diesem Vernichtungskrieg schützen zu können“. Beck rechnet mit einer „großen Osteroffensive“ der russischen Armee, die konzentriert aus dem Osten kommen werde.
„Wir müssen uns endlich, endlich trauen, aus einer Position der Stärke heraus Putin entgegenzutreten und nicht ständig wackelig zu sein. Leider ist Deutschland der größte Wackelkandidat innerhalb der Europäischen Union und der NATO, zusammen mit Macron.“

Ukraine braucht schnell Waffenlieferungen

Der Direktor der Abteilung Verteidigungs- und Militär-Analyse am International Institute for Strategic Studies in London, Bastian Giegerich, kritisiert die „künstliche Trennung zwischen Defensiv- und Offensivwaffen“, nach der die Bundesregierung bisher über die Form der Unterstützung für die ukrainische Armee entscheide. Alles, was die Ukraine im Moment mache, sei defensiv, sagt Giegerich.
„Das ist schon fast per Definition so. Die NATO ringt sich gerade zu dieser Position durch, aber da kann man noch wesentlich mehr machen. Aber man muss schnell sein. Es geht wirklich um Tage. Das ist ganz brutale Realität. Das bedeutet nicht, dass man direkt eingreift, aber es bedeutet, dass man auch da bereit ist, Entscheidungen nicht immer nur in kleinen Trippelschritten zu treffen, sondern auch einmal in größeren Paketen zu handeln. Und das betrifft die Sanktionen, betrifft aber auch Waffenlieferungen.“

„Die Gewalt wird jetzt zunehmen“

Der Osteuropa-Historiker Jörg Baberowski fürchtet, dass die russische Armee ihren Krieg in der Ukraine mit noch größerer Brutalität fortsetzen werde, weil es für Präsident Wladimir Putin um sein Ansehen gehe. „Die Gewalt wird jetzt zunehmen, weil er sein Gesicht wahren muss und weil er einen Erfolg braucht. Ich glaube, dass die Gräuel, die sich jetzt zeigen, der Einsatz der 'Kadyrowzy' und anderer paramilitärischer Einheiten auf die Schwäche zurückzuführen ist, die die russische Armee offenbart. Und die Gewalt wird deshalb zunehmen. Natürlich war das nicht von Anfang an im Kalkül, ukrainische Städte dem Erdboden gleich zu machen, weil er glaubte, er könne sie mit einem Handstreich nehmen. Jetzt aber gibt es keine andere Möglichkeit mehr.“

Krieg kann sich über Jahre hinziehen

Baberowski warnt davor zu unterschätzen, zu welchen Gewaltmitteln Putin noch in der Lage ist und welche Gewaltmittel er noch einsetzen kann. „Wir sollten auch nicht unterschätzen, wie sehr das in Russland leider immer noch populär ist, was er da gerade anrichtet. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Lieferung schwerer Waffen an der Fortsetzung des Krieges irgendetwas ändern wird. Das wird diesen Krieg allenfalls noch verschärfen.“
Zugleich sei es selbstverständlich notwendig, die ukrainischen Verteidiger zu bewaffnen, so dass sie Widerstand leisten könnten, betont Baberowski. „Aber es wird irgendwann einmal der Punkt kommen, wenn sich der Krieg über Monate, vielleicht sogar über Jahre erstreckt, dass irgendjemand die Moderatorenrolle übernehmen muss, um diesen Krieg zu beenden. Man kann nicht per se sagen, dass die Lieferung von schweren Waffen dazu führen wird, dass Russland diesen Krieg einstellt. Daran glaube ich nicht. Das kann sich Putin überhaupt nicht erlauben und seiner Kamerilla erst recht nicht. Deshalb kann sich dieser Krieg über Jahre erstrecken.“

Innere Veränderungen in Russland sind „Schlüssel“

Baberowski hält es für geboten, alles daran zu setzen, dass sich in Russland selbst etwas verändere. „Da liegt im Grunde der Schlüssel des Ganzen, nämlich in den inneren Veränderungen in Russland selbst. Kluge Menschen müssen darauf hinarbeiten, dass es einen Regimewechsel gibt. Ich würde nicht so sehr darauf bauen, dass, wenn der Krieg sich über Monate oder vielleicht Jahre erstreckt, dass sich dann irgendwer im Westen noch in einer Einheitsfront gegen Russland stellt. Und Putin weiß genau das, dass diese Einheit schnell unter den wirtschaftlichen Problemen zerbröckeln.“

Anstreben eines Regime-Wechsels in Russland riskant

Ursula Schröder, die das Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik der Universität Hamburg als wissenschaftliche Direktorin leitet, hält es dagegen für eine „Hochrisikostrategie“, von außen über Regime-Wechsel in Russland zu sprechen. „Wir haben es in Russland mit einem Akteur zu tun, der multiple Formen der Massenvernichtungswaffen unter sich hält, der ein sehr großes Territorium kontrolliert und eine ganz andere Art von Akteur ist als die Akteure, gegen die sich in den vergangenen 20 Jahren militärische Aktionen gerichtet haben.“ Ein Regime-Wechsel könne auch zu einer noch negativeren Entwicklung in Russland führen, sagt Schröder. „Das heißt, diese Art der personalisierten Führung in Russland ist schwer zu beeinflussen.“
(ruk)
Es diskutieren:
  • Marieluise Beck, Osteuropa-Expertin und Mitgründerin des Zentrums Liberale Moderne
  • Prof. Ursula Schröder, wissenschaftliche Direktorin am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg
  • Prof. Jörg Baberowski, Osteuropa-Historiker an der Humboldt Universität zu Berlin
  • Dr. Bastian Giegerich, Direktor der Abteilung Verteidigungs- und Militär-Analyse am International Institute for Strategic Studies in London
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