Russlands Angriff auf die Ukraine

Wir sind im Krieg

Ukrainische Geflüchtete und Unterstützerinnen und Unterstützer demonstrieren am Tag der Unabhängigkeit in München - auf einem Plakat steht "Für unsere und eure Unabhängigkeit", darauf auch das mit einem Herzen abgewandelte Zeichen des ukranischen Militärs
Die Ukraine schnellstmöglich mit allen wirtschaftlichen und militärischen Fähigkeiten zu verteidigen, dafür plädiert Martin C. Wolff. © picture alliance / ZUMAPRESS.com / Sachelle Babbar
Eine Standortbestimmung von Martin C. Wolff · 03.11.2022
Der Ernstfall hat den Frieden zur Seite geschoben: Es herrscht Krieg in der Ukraine. Nun müssen auch wir hierzulande den Ernstfall akzeptieren, meint Philosoph Martin C. Wolff, und hinsehen statt uns wegzuducken - und uns der Kriegslogik unterwerfen.
Jeder Frieden beginnt mit einem Vertrag. Jeder Krieg kündigt die Verträge. Ohne Verträge kollabieren die Sicherheit und Planung. Die Zukunft wird ungewiss: Nicht länger bekömmlich, hoffnungsvoll und tröstend. Sondern unbekömmlich, schrecklich und unberechenbar.
Im Krieg steigert sich diese Ungewissheit zur absoluten Ohnmacht. Es bleiben nur Furcht und Zittern. Denn die kriegerische Zerstörung ist zufällig, sie folgt keiner Regel und keiner Gerechtigkeit. Der Krieg ist der absolute Kontingenzfall. Hier spielt der Tod mit den Würfeln. Wer stirbt? Wo schlägt die Rakete ein? Wen trifft es als Nächstes? Wohin können wir fliehen? Es ist der Ernstfall: irreversibel und schmerzvoll.

Krieg beleidigt die Vernunft

Bei so viel Schmerz klammert man sich an alte Überzeugungen, wurden Gewissheiten doch ebenso zerstört wie die Wohnhäuser in Kiew. Was man bei Kindern das Vogel-Strauß-Prinzip nennt und belächelt, zeigt sich bei einigen Intellektuellen als sogenannte „Friedensethik“ nach dem Einmarsch: Wenn ich es nicht sehe, ist es nicht da.

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Die Vernünftigen zeigen sich beleidigt, denn der Krieg ist unvernünftig, aber tödlich. Oft hört man das Gebet: "Bitte mache diesen Krieg wieder weg. Lass es aufhören!" Die frommen Wünsche an eine vermeintlich allmächtige Diplomatie, vorgetragen von den Spezialisten der Vernunft: "Wenn ihr mehr reden würdet, wäre kein Krieg."
Es ist die Überzeugung von der magischen Funktion der Worte, statt der Taten. Mehr Worte, um bloß nicht handeln zu müssen! Wo doch all die Jahrzehnte der Diplomatie gegenüber Russland nichts brachten, muss doch zumindest die Ukraine zuhören! So mancher hierzulande verzeiht der Ukraine nicht, dass sie sich wehrt statt aufzugeben. Für ihre Werte opfern die einen ihr Leben, die anderen ihre Worte.

Über den Ernstfall nicht hinwegsehen

So unvernünftig der Krieg selbst ist, so vernünftig sind seine inneren Logiken. Als Chamäleon tarnt und versteckt er sich vor dem öffentlichen Auge, um taktische und strategische Vorteile zu gewinnen. Der Kriegsfall ist performativ, deswegen muss man es aussprechen: Wir sind im Krieg. Ein normativer Akt. Im Kriegszustand gelten andere Normen und Gesetze. Juristen wissen das.
Politiker aber scheuen die Zumutung gegenüber ihrem Volkssouverän. Lieber von Krise, Spannung, vielleicht sogar hybriden Angriffen reden – aber nicht vom Krieg: Das ist doch viel zu ernst! Doch der Ernstfall hat den Frieden zur Seite geschoben. Unser Bundespräsident brachte das auf den Punkt: „Am 24. Februar hat Putin nicht nur Regeln gebrochen und das Spiel beendet. Nein, er hat das ganze Schachbrett umgeworfen!“
Krieg ist Unsicherheit, Unsicherheit zerstört Planung. Planung aber ist das A und O aller Wirtschaft. Die Energiepreise steigen, die Lieferketten bleiben zerstört. Notgedrungen tritt eine Kriegswirtschaft hervor, weil der Kriegszustand die einzig klare Planungsgröße bleibt: Die Rüstungsindustrie benötigt Ressourcen, die woanders fehlen; Luxusgüter werden zum Luxus, die Renten wackeln und die Inflation galoppiert.

Reden hilft nicht gegen angreifendes Militär

Im Krieg werden Klugheit und Diplomatie zum taktischen Mittel. Für die Vernunft bleibt die Strategie, die Taktik überlässt man den ausgebildeten Profis im Militär. Denn jeder Krieg dient einem Zweck, er ist ein politisches Mittel. Das hat der russische Präsident in Wort und Tat demonstriert. Rollen erst einmal die Panzer, hilft gegen die Gewalt nur Gewalt. Gegen das Militär, nur Militär. Mehr muss man zu Waffenlieferungen nicht sagen.
Akzeptieren wir den Ernstfall? Dann müssen wir keine militärischen Fähigkeiten für einen anderen Ernstfall der Landes- und Bündnisverteidigung zurückhalten. Dann müssen wir die Ukraine schnellstmöglich mit allen wirtschaftlichen und militärischen Fähigkeiten verteidigen, um diesen Krieg zu gewinnen und die Diplomatie, die dann den Frieden verhandelt, zu erzwingen: ein Kriegsende in unsrem Sinne.
Oder aber wir halten uns so weit wie möglich mit der Hoffnung raus: "Das wird nicht unser Ernstfall. Diese ungemütliche Realität soll uns fernbleiben und Russland sich nehmen, was es möchte."
Bis wir an der Reihe sind.

Martin C. Wolff promovierte mit einer Phänomenologie zu Konflikten und leitet das Clausewitz Netzwerk für Strategische Studien. Er lehrt an der HU-Berlin zur Theorie und Praxis der Digitalisierung und macht als Firmengründer Strategieberatung für Institutionen. Veröffentlichung: „Ernst und Entscheidung“ (2016) und "Digitale Souveränität" (2022).

Porträt des Autors Martin C. Wolff, mit Krawatte vor verschwommenem Hintergrund.
© privat
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