Individualität in Russland

Menschen wurden wie Staub behandelt

Menschen mit Russlandfahnen in Moskau
Winken und Wladimir Putin unterstützen: Auf einer Kundgebung am 11. März 2022 demonstrieren Menschen in Moskau für den Kriegskurs des Präsidenten. Das Foto stammt von der russischen Staatsagentur TASS. © picture alliance / dpa / TASS / Vladimir Gerdo
Ein Kommentar von Marina Weisband · 14.03.2022
Wie ist Putins dauerhafte Beliebtheit bei der Bevölkerung zu erklären? Durch Propaganda, sicher. Aber die Ursachen liegen tiefer, meint die in der Ukraine geborene Psychologin Marina Weisband. Der Einzelne war in Russland nie viel wert.
Neben den vielen heldenhaften Protesten in russischen Städten gegen Putins Krieg sehen wir auch viele, die ihn unterstützen, viele, die sogar ihre Autos jetzt mit dem "Z" dekorieren, um ihre Kriegsbegeisterung zu bekunden. Was treibt diese Menschen an?
Putin hat diesen Krieg acht Jahre lang medial vorbereitet, hauptsächlich über das Fernsehen, woher die meisten Russen noch immer ausschließlich ihre Nachrichten beziehen. Acht Jahre lang wurden Kiewer entmenschlicht, es wurde ein Genozid an russischsprachiger Bevölkerung herbeigedichtet und eine faschistische Regierung. Warum faschistisch? Weil das bei Russen ein klares und emotional eindeutiges Feindbild kodiert. Man ist gegen Faschismus. Das war Opa schon. Das ist absolut klar. Dessen bedient sich jetzt Putin, dessen eigener Staatsapparat zunehmend faschistische Züge trägt.

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Aber diese Propaganda fällt auch auf fruchtbaren Boden. Sie müssen beachten: Eigentlich seit dem 13. Jahrhundert lebten sämtliche Generationen in Russland in Knechtschaft. Sie wurden in Knechtschaft geboren und starben in Knechtschaft, sei es das zaristische Regime mit der Leibeigenschaft oder der Stalinismus. Persönliche Würde war einfach kein Ding.
Meine Mutter erzählte mir neulich: "Ich habe, als ich nach Deutschland gekommen bin, fünf Jahre gebraucht, um zum ersten Mal sowas wie Selbstwert zu fühlen. Davor hatte ich keine Vorstellung, was das ist."

Der Mensch war nichts wert

Was bedeutet das? In der Sowjetunion war der Mensch Staub. Er wurde als Staub geboren. Im Geburtshaus der Mutter entnommen und fünf Mal am Tag zum Füttern ins 20-Bett-Zimmer gebracht. Menschen wurden behandelt wie Staub. Selbst in Geschäften und auf dem Markt meist unfreundlich. Sprichwort: "Der sowjetische Dienstleistungssektor ist unaufdringlich. Wenn Sie nicht wollen, können Sie zur Hölle fahren."  
Wo Menschen Staub waren, hielten sie sich schon immer an etwas, das größer war, als sie selbst. Die Idee Gottes. Die Idee des Imperiums. Die schiere Größe des Landes und seines Geistes, wo das eigene Leben klein und unbedeutend war. Darum war Glaube ein enorm wichtiges Ding. Dann kam die Revolution. Der Glaube wurde effektiv verboten. An seine Stelle trat der Glaube an Kommunismus. Eine Art Ersatzreligion. Manche folgten dem mit vollem Eifer. Manche spielten einfach mit: "Wir tun so, als ob wir arbeiten, und sie tun so, als ob sie uns bezahlen."
Es war dennoch immer etwas, das größer war als die Menschen selbst. Sie waren machtlos, und es gab keine Kultur um eine individuelle Würde. Selbst in meiner Dissidentenfamilie musste man anerkennen, so schlecht die Dinge auch waren: Unsere Wissenschaftler waren groß. Unsere Leute haben einen Menschen ins All gebracht. Unsere Kultur war voll von schönen Ritualen mit Blumen und allem.  

Reichtum nur für Skrupellose

Und dann kamen die 90er. Das System bracht zusammen zugunsten "westlicher Werte". Und wie kamen diese Werte in Russland an? Erstmal als Raubbau am Land. Alles, was vorher staatlich war, wurde privatisiert. Und privatisiert hieß: zusammengeklaut.
Menschen brachten unfassbare Bestechungssummen in die Kreditabteilungen der Banken und kauften alles, was bei drei nicht auf den Bäumen war. Einige – unter anderem Putins Klüngel – wurden zu Milliardären. Die meisten blieben mit nichts zurück. Plötzlich war keine Gewissheit mehr im nächsten Tag da. Teilweise fielen Menschen buchstäblich in Ohnmacht vor Hunger. In meiner Familie gibt es eine ganze Sage darum, wie meine Oma einst auf dem Markt drei Pfirsiche ergatterte, und ich sie mir tragisch über den zweijährigen Bauch verschmierte, statt ihre wertvollen Vitamine zu essen.
Menschen, die nicht gut lebten, aber immerhin absolut sicher gewesen waren, wo sie in einem Jahr sein würden, waren plötzlich bar jeder Orientierung. Es war verwirrend und entmutigend und demütigend. Der Wohlstand des Westens war wenigen vorbehalten. Für die meisten war es ein tatsächlicher Zusammenbruch, und Menschen, die ihren Wert daraus gezogen hatten, was größer war als sie selbst, hatten plötzlich nichts mehr. 

Die Ukrainer haben ihre Würde gefunden

Von hier verstehen wir, warum die Kirche so schnell und so mächtig zurückkehrte. Warum Stalin neuerdings wieder so einen guten Ruf genießt. Warum Putin mit seinen imperialistischen Fantasien so gut bei den Leuten ankommt. Warum Menschen mitgehen, wenn er sagt: "Der Westen ist schwach und dekadent und wir holen uns jetzt unsere Völker nach Hause."
Denn die wahre Tragik ist: Das Land, das die Russen für ihren Bruder halten, hat es geschafft, aus dieser Spirale von Knechtschaft auszubrechen. Die Ukrainer haben ihren Selbstwert wiedergefunden, ihre Würde. In der Orangenen und in der Maidan-Revolution haben sie die Kehrtwende weg vom Obrigkeitsdenken gemacht.
Die Ukraine ist damit ein lebendiges Beispiel dafür, dass es auch anders gehen kann, dass auch Slaven eine Demokratie haben können. Und das ist für Putin gefährlich.

Marina Weisband, geboren 1987 in der Ukraine, ist Diplompsychologin und Expertin für digitale Partizipation und Bildung. Von 2011 bis 2012 war sie politische Geschäftsführerin der Piratenpartei Deutschland, wo sie für die Meinungsbildung innerhalb der Partei und für die Repräsentation nach außen zuständig war. Heute engagiert sie sich bei den Grünen in den Themenbereichen Digitalisierung und Bildung.

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