- Olha Band: Die Produktmanagerin, deren Firma Vorbild für andere sein will
- Kateryna Krupska: Die Soldatenwitwe, die mit Antidepressiva den Tag bewältigt
- Denis Trubetskoy: Der Journalist, der den Begriff Kriegsmüdigkeit ablehnt
- Olha Schwet: Die Philosophin, die sich um Flüchtlinge kümmert
- Halyna Tschepka: Die Lehrerin, die Kindern ein Stück heile Welt geben will
- Dmytro Sherengovsky: Der Politologe, der sich wenig Illusionen macht
Krieg und Alltag
Trauer um die Gefallenen in Lwiw: Auch weit entfernt von der Front prägt der Krieg das Leben der Menschen. © imago / News Licensing /Jack Hill
So blicken Menschen in der Ukraine in die Zukunft
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Luftalarm, Drohnenangriffe, Stromausfälle: Der Krieg ist für die ukrainische Bevölkerung auch jenseits der Front allgegenwärtig. Wie kommen die Menschen durch den Alltag und wie sehen sie ihre Zukunft? Stimmen aus Kiew und Lwiw.
Nur auf den ersten Blick erscheint das Leben in Lwiw im Westen der Ukraine normal. Straßenmusiker spielen, Plakate werben um Investoren und Schulen sind geöffnet. Doch auch 1.000 Kilometer von der Front entfernt kennen die Menschen den Krieg.
Von der Grundschullehrerin bis zur Produktmanagerin: Wie geht es Ukrainerinnen und Ukrainern drei Jahre nach Beginn von Russlands Großinvasion? Wir haben einige Stimmen gesammelt – aus Lwiw und aus Kiew.
Überblick
Olha Band: Die Produktmanagerin, deren Firma Vorbild für andere sein will
Als die russische Großinvasion 2022 begann, floh Olha Band vor den Bomben aus der ostukrainischen Region Luhansk. Sie ist Produktmanagerin einer Strumpfwarenfirma. Neben ihr flohen auch der Firmengründer sowie rund ein Dutzend weitere Kollegen. In der relativ sicheren westukrainischen Stadt Lwiw begannen sie in einer leerstehenden Fabrikhalle wieder bei Null.
Auch wenn es alles andere als leicht war: Heute ist die Firma von 17 auf mehr als 60 Mitarbeiter gewachsen und macht Gewinn. Der finanzielle Druck bleibt indes groß. Es herrscht auch Personalmangel – wegen der Mobilisierung und weil viele Ukrainer ins Ausland geflohen sind.
Dennoch glaubt Olha Band an bessere Zeiten. Ihre Firma soll als Vorbild dienen:
„Natürlich ist das auch ein Zeichen von Optimismus und Glaube an die Ukraine und ihre Menschen. Hinzu kommt, dass man sich für die Mitarbeiter und die Firma verantwortlich fühlt. Das alles gibt man nicht so ohne Weiteres auf. Wir glauben daran, dass es am Ende für uns gut ausgeht. Warum? Kaum jemand hat zu Beginn an uns geglaubt, und nun haben wir drei Jahre durchgehalten. Ukrainer sind hartnäckig, das sollte man verstehen.“
Kateryna Krupska: Die Soldatenwitwe, die mit Antidepressiva den Tag bewältigt
Kateryna Krupska lebt in einem Vorort von Kiew. Sie ist eine von vielen in der Ukraine, deren Angehörige im Krieg gefallen sind. Präsident Selenskyj sprach kürzlich von 46.000 getöteten Soldaten. Beobachter gehen von deutlich höheren Zahlen aus.
Krupskas Partner fiel im Sommer 2023 in der Nähe von Bachmut in der Ostukraine, nach einem russischen Raketenangriff. Sie erfuhr auf der Arbeit von seinem Tod und brach zusammen.
Hinterbliebenen von Gefallenen steht eigentlich eine einmalige staatliche Zahlung von umgerechnet 346.000 Euro zu. Sie wird auf Ehepartner, Eltern und Kinder aufgeteilt. Das führt manchmal zu Neid. Vielen fällt es auch schwer, das Geld anzunehmen.
Krupska und ihr Partner waren noch nicht verheiratet. Sie hätte die Summe vor Gericht erstreiten müssen – für sie nicht akzeptabel: „Ich halte es für unwürdig, vor Gericht zu beweisen, dass diese Person die Liebe meines Lebens war und dass ich nur mit ihm zusammengelebt habe“, sagt sie.
Mittlerweile kann die Witwe wieder arbeiten. Doch bis heute ist sie in psychologischer Behandlung und nimmt Antidepressiva.
Denis Trubetskoy: Der Journalist, der den Begriff Kriegsmüdigkeit ablehnt
Fast jede Nacht gibt es Drohnenangriffe aus Russland und Luftalarm, manchmal auch tagsüber: Seit drei Jahren müssen auch die Menschen in Kiew damit klarkommen, dass sie gestresst und unausgeschlafen sind. So wie Denis Trubetskoy. Er berichtet für deutsche Medien aus der ukrainischen Hauptstadt. Viel schlimmer sei es natürlich in Städten wie Charkiw nahe der Front im Osten des Landes. Dort schlagen häufig Bomben ein, bevor Alarm ausgelöst werden kann.
„Das Problem ist, dass es keine wirklichen Lichtblicke gibt“, sagt der Journalist, der auf der Krim geboren wurde. Die Ukrainerinnen und Ukrainer könnten nicht einmal „von heute auf morgen“ leben, sondern nur von „heute auf heute“, denn keiner wisse, was am Abend passieren werde.
Trubetskoy lehnt dennoch den Begriff „Kriegsmüdigkeit“ kategorisch ab. Er treffe nicht die Gefühlslage der Menschen, auch wenn sie erschöpft und müde seien. Momentan erkennt der Journalist in der ukrainischen Gesellschaft eher das Gegenteil von Resignation. Und das, obwohl es so aussieht, als würde US-Präsident Trump mit dem russischen Präsidenten Putin einen Deal auf Kosten der Ukraine machen wollen.
„Gerade aufgrund der Tatsache, dass Donald Trump aktuell die ukrainische Staatsführung, den Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, derart frontal verbal angreift, gibt es hier eine neue Entschlossenheitswelle.“ Die sei wohl nicht so „gigantisch“ wie in den ersten Kriegsmonaten. Doch selbst politische Gegner würden dem Präsidenten den Rücken stärken.
Olha Schwet: Die Philosophin, die sich um Flüchtlinge kümmert
Immer montags kümmert sich Olha Schwet am Bahnhof von Lwiw um Menschen, die ihre frontnahen Heimatorte verlassen mussten. An den anderen Tagen lehrt sie Philosophie an der Universität. Die Organisation, für die sie arbeitet, bietet zum Beispiel psychologische Unterstützung an.
Schwet beobachtet, dass viele Ukrainer seit Beginn des russischen Angriffskrieges resilienter geworden seien. Sie würden die Kraft aufbringen, sich selbst zu versorgen und Hilfe auch abzulehnen. Dass sich ihre Landsleute zügig anpassten und neue Techniken erlernten – wie den Umgang mit Drohnen – verleiht der Flüchtlingshelferin Hoffnung.
Doch die politischen Entwicklungen, die eher düsteren Aussichten auf einen dauerhaften Frieden, treiben sie um: „Wir haben schon im 18. und 19. Jahrhundert gesehen, wie das zaristische Russland in manipulativer Art Einflusszonen für sich schuf. Immer wieder haben westliche Anführer zu spät den Expansionsdrang Russlands durchschaut.“
Schwet hat eine sechs Jahre alte Enkelin. Ihr will sie die Berge und die Welt zeigen – für sie eine starke Motivation: „Wir leben, um ein Erbe zu hinterlassen. Dieses sollte stark und leuchtend sein. Anders darf es nicht sein.“
Halyna Tschepak: Die Lehrerin, die Kindern ein Stück heile Welt geben will
Eine normale Kindheit? Im Krieg unmöglich. Umso mehr versucht Halyna Tschepak, wenigstens an ihrer Grundschule in Lwiw ein Gefühl von Geborgenheit zu vermitteln. Die Lehrerin organisiert in ihrer Klasse zum Beispiel Pyjamapartys, zu denen die Kinder ihr Lieblings-Spielzeug mitbringen dürfen. Das stärke die Gemeinschaft und beruhige die Kinder.
Der Krieg bleibt dennoch allgegenwärtig. In der Schule gibt es Schutzräume vor Raketen. Jedes zweite Kind hat einen Vater an der Front. Alle haben Verwandte, die schon gekämpft haben. Empathie und Sensibilität stehen an erster Stelle: „Wenn zum Beispiel der Vater eines Kindes an die Front fährt, dann ist Matheunterricht völlig egal.“
Manche Kinder kommen aus umkämpften Gebieten. Um sie kümmert sich Tschepak besonders. Um die Belastungen des Krieges emotional zu verarbeiten, stehen auch Schulpsychologen bereit.
Die Lehrerin meint, die Kinder seien innerlich stark und mutig. Fast alle wollen Soldaten werden. Die seien für sie Superhelden.
„Ich verfolge zwar, was in der Politik passiert“, sagt Tschepak. „Doch meine ganze Kraft gilt meiner Arbeit. Ich konzentriere mich darauf, unsere künftige Gesellschaft mit aufzubauen.“
Dmytro Sherengovsky: Der Politologe, der sich wenig Illusionen macht
Es ist die Erfüllung eines tiefen Wunsches: Dmytro Sherengovsky ist vor gut drei Monaten Vater einer Tochter geworden. Ein Kind mitten im Krieg? Der Politologe an der Katholischen Universität von Lwiw sieht darin auch Symbolik.
Als die Tochter zur Welt kam, herrschte in der gesamten Ukraine gerade Luftalarm.
„Uns ist natürlich bewusst, dass der Ukraine die Menschen ausgehen, und dass deshalb jede Geburt wichtig ist“, sagt Sherengovsky. In diesem Krieg gehe es nicht nur um Gebiete und einen Bruch des Rechts, sondern auch um die ukrainische Identität. „Wir möchten das an weitere Generationen weitergeben.“
In seinem Beruf befasst er sich täglich mit Politik und macht sich deshalb wenig Illusionen. Die Ukraine sieht er in einer überaus schwierigen Lage. Er analysiert nüchtern:
„Eine Ausweitung des Krieges nach einem möglichen Einfrieren ist denkbar. Aber wenn man Ukrainer fragt, ob sie davor Angst haben – dann ist die Antwort nein, denn wir sind schon seit Jahren im Krieg. Europa dagegen sollte sich Sorgen machen, dass der Krieg dorthin überschwappt.“
bth