Ukrainische Kultur im Krieg  

Zwischen Zerstörung und Aufschwung     

53:53 Minuten
Ukraine-Krieg 2022. Die Großstadt Tschernihiw, ca. 150 km nordöstlich von Kiew, wurde von Ende Februar bis Ende März von russischen Truppen belagert und mehrfach von der Luftwaffe bombardiert. Der ortsansässige Künstler Viktor Onyshchenko malt die bei den russischen Luftangriffen vom 11. März zerstörte Bibliothek. Tschernihiw, Oblast Tschernihiw, Ukraine, 08.04.2022
Zerstörung und Zuversicht: Der ortsansässige Künstler Viktor Onyshchenko malt die bei russischen Luftangriffen zerstörte Bibliothek in Tschernihiw 150 km nordöstlich von Kiew. © picture alliance / Joker / Denis Vejas / est&ost
Moderation: Hans Dieter Heimendahl |
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Die ukrainische Kultur steht für die Identität der Nation. Daher gehört es zum Kalkül der russischen Aggressoren, sie auszulöschen. Bisher ist der Plan nicht aufgegangen – nie war das Interesse für die Kulturschaffenden der Ukraine so groß wie heute.
In vielen Teilen der Ukraine erlaubt der Krieg nicht mehr, dass Kultur stattfinden kann. Doch gerade jetzt ist sie wichtig für die erschöpften Menschen, ein Band, das stärkt und zusammenhält. Wo immer es möglich ist, versuchen die russischen Angreifer, dieses Band zu vernichten. Denn sie fürchten seine identitätsstiftende Kraft.
Im “Kulturpolitische Salon“ am 1. Juni 2022 im Deutschen Theater in Berlin diskutierten unsere Gäste über die Lage der ukrainischen Kultur im Krieg und das kulturelle Hegemoniebestreben als Teil der russischen Kriegsführung.

Es diskutieren:
Pavlo Arie, Autor und Dramaturg
Christine Dissmann, Leiterin des Theaters "ogalala kreuzberg" in Berlin
Gesine Dornblüth, Journalistin
Wilfried Jilge, Osteuropahistoriker

Instrumentalisierung der russischen Dichter

Beim Kampf um kulturelle Vormachtstellung machen die Aggressoren selbst vor der eigenen Hochkultur nicht Halt – zu Propagandazwecken müssen auch die großen Dichter auf die Kriegsschauplätze. Die russische Kultur werde derzeit “massiv als Waffe“ genutzt, sagt Gesine Dornblüth.
“Es gibt gerade Fotos in den sozialen Medien von Plakaten, die im Gebiet Cherson aufgestellt werden, im Süden der Ukraine. Das sind riesige Plakate am Straßenrand mit Porträts von Puschkin drauf. Mit dem Hinweis, dass Alexander Puschkin diese Stadt zweimal besucht habe und dass das deswegen nicht ukrainisches, sondern russisches Gebiet sei.“

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Als “Teil der russischen Nationalitätenpolitik“, ergänzt Wilfried Jilge, wurden bereits vor dem Krieg viele Straßen in der Ukraine nach russischen Dichtern benannt. Was damals schon für Diskussionen sorgte, empfinden die Menschen heute als unerträglich.
“Natürlich kann Puschkin als Zeitgenosse nichts für den Krieg der Russischen Föderation gegen die Ukraine. Aber er wird eben instrumentalisiert, um in der Ukraine, vor allem in den Städten, einen kulturellen Raum zu besetzen, der den ukrainischen verdrängt.“

"Alles Ukrainische wird wieder verboten oder vernichtet"

Die ukrainische Kultur hat viele Versuche der Auslöschung erlebt. Seit mehr als 200 Jahren, sagt Pavlo Arie, leide das Land unter einer Politik der Russifizierung. Immer wieder wurde das Sprechen und Schreiben auf Ukrainisch verboten, und als Stalin die Ukraine mit einer Massenhungersnot überzog, starben Millionen Menschen – und mit ihnen ihre Sprache.
Auch das heutige Vorgehen der russischen Aggressoren hat die Zerstörung von ukrainischer Identität und Kultur zum Ziel. Wenn russische Soldaten eine Stadt einnähmen, erzählt Pavlo Arie, laufe es immer gleich ab:
“Es werden sofort alle ukrainische Bücher aus der Bibliothek genommen, also verbrannt oder weggeschmissen. Alles Ukrainische wird wieder verboten oder vernichtet.“
Diese Entwicklungen müsse man bedenken, betont Gesine Dornblüth, wenn man darüber diskutiere, “ob es verständlich ist, dass die Menschen in der Ukraine jetzt erst einmal eine Pause machen wollen mit russischer Kultur.“

Ukrainisch wird hip

Christine Dissmann, die ein Projekt für ukrainische Kulturschaffende im Exil initiiert hat, kannte noch die lebendige Theaterszene im heute völlig zerstörten Mariupol. Vor dem Krieg hörte sie dort oft, wie die Menschen “sehr entspannt“ innerhalb eines Satzes vom Ukrainischen zum Russischen wechselten – die Mehrheit in der Ukraine versteht beide Sprachen. Doch die Situation hat sich gedreht, mittlerweile lehnen viele Ukrainer die russische Sprache ab.

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“Wenn Theaterstücke im Osten der Ukraine ausgedacht werden, mit Schauspielerinnen und oder Schauspielern, die Russisch als Muttersprache haben, müssen die übertitelt werden. Es gibt wirklich ein Gesetz, das alles, was Kultur ist, auf Ukrainisch passieren muss. Und ich glaube, dass es jetzt eine gewisse Hipness hat, Ukrainisch zu sprechen. Als ein Zeichen von Behauptungsvermögen, von Beharrung auf der eigenen Kultur, von Stolz auch.“

Der neue Blick auf die Ukraine

Die Eigenständigkeit der ukrainischen Kultur ist lange Zeit nicht wahrgenommen worden. Doch der Krieg bringt dem Land einen Zuwachs an Aufmerksamkeit, mit dem niemand gerechnet hätte.
Die Ukraine erfährt so viel Interesse wie nie zuvor – auch auf kultureller Ebene. Europaweit setzen Sender ihren Fokus auf ukrainische Kunst und Kultur. Ukrainische Orchester geben Konzerte, ukrainische Gegenwartsliteratur wird übersetzt, mit Hilfe von 200 Millionen Zuschauern gewann das Land den ESC, viele Kulturschaffende können im Exil arbeiten.
In der Geschichte der Ukraine habe es immer wieder lange Perioden von “Vernichtungsmomenten“ gegeben, sagt Christine Dissmann. Doch ihre Kultur sei kraftvoll, inspirierend und reichhaltig. Eine Stimme, die zu uns gehöre.
“Ich hoffe, dass wir uns bewusst werden, was für ein wichtiger kultureller Baustein sie im Mosaik Europas ist. Und – was wir diesem Freiheitskampf als Europäer zu verdanken haben.“
(tif)

Der Kulturpolitische Salon ist ein Diskussionsforum in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Bühnenverein, dem Deutschen Kulturrat und Deutschlandfunk Kultur.

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