Offensive der Ukraine

Moskau nennt es "Umgruppierung"

24:18 Minuten
Ein zurück gelassener russischer Panzer auf einer zerstörten Straße in Izjum, Ukraine. Im Hintergrund  ist ein Plakat mit der Flagge Russlands zu sehen.
Ein in Izjum zurückgelassener rusischer Panzer: Russische Truppen wurden regelrecht überrumpelt, erklärte der Militäranalyst Oleh Schdanow im ukrainischen TV. © Getty Images / Le Monde / Laurent Van Der Stockt
Von Palina Milling und Andre Zantow · 14.09.2022
Audio herunterladen
Der Kreml reagiert betont gelassen auf die großen ukrainischen Geländegewinne im Nordosten. Aber im Fernsehen und sogar im Parlament fällt erstmals das Wort "Krieg" statt "militärischer Spezialoperation". Russland droht eine Generalmobilmachung.
Ukrainische Kämpfer reißen die russische Trikolore von Dorfmasten nieder und hissen die blau-gelbe Fahne. „Hoch lebe die Ukraine – Ehre ihren Helden“ schallt dabei. Die Videos zeigen, wie Bewohner die ukrainische Armee empfangen. Am Wegesrand winken sie Soldaten zu, klatschen, es gibt Freudentränen.
Der zermürbende Krieg gegen die Ukraine dauert bald seit sieben Monaten an. Am 24. Februar wurde das Land aus der Luft, von der See und am Boden durch russische Angriffe erschüttert – im Norden, Osten und Süden. Erst Ende März zogen sich die russischen Einheiten aus dem Kiewer Umland zurück.
Nach wochenlangen Bombardements und erbitterten Kämpfen fiel Mariupol an Russland. Die Frontlinie erstreckte sich über rund 1300 Kilometer. Ein kräftezehrender Stellungskrieg folgte. Beschuss und Raketenangriffe auf Städte und Dörfer.
Ab etwa Mitte Juli setzten die ukrainischen Streitkräfte zu Schlägen auf Kommandostellen, Waffen- und Munitionsdepots auf besetztem Gelände an. Für das Gebiet Cherson, im Süden, wurde ein Vorrücken angekündigt. Doch kaum angefangen, geriet es ins Stocken.

Ankündigung im Süden, Angriff im Nordosten

Erst jetzt, Anfang September, war das ukrainische Militär für eine aktive Gegenoffensive so weit – aber nicht in Cherson, sondern im Nordosten des Landes, im Gebiet Charkiw.
Russische Truppen wurden davon offenbar regelrecht überrumpelt, erklärte Militäranalyst und ehemaliger Mitarbeiter des Generalstabs Oleh Schdanow im ukrainischen Fernsehen: „Ihre Verteidigung ist in sich zusammengefallen, wie in einer Kaskade. Sie können nirgendwo halt machen und wir kommen immer weiter voran, indem wir ihnen auf den Fersen sind.“
Ein taktischer Schachzug, der sich auszahlt: Durch den Druck der Ukrainer in Cherson geriet das russische Kommando im August unter Zugzwang. Einige Einheiten wurden in den Süden verlegt, Militärfahrzeuge, Artillerie, Munition. Auch aus der Charkiwer Gegend, wo sie nun fehlen.
Das weiß die ukrainische Armee und sie setzt zu einem Schlag an. Sie durchbricht die russische Verteidigungslinie unweit des Städtchens Balaklija, rund 90 Kilometer südöstlich von Charkiw. Die Ukrainer rücken schnell vor, scheren nach links und rechts aus, erobern Dutzende Siedlungen. Schon bald bringen sie Kupjansk wieder unter ihre Kontrolle – einen strategischen Eisenbahnknotenpunkt. Darüber transportierte Russland Waffen und Munition für seine Truppen.
Für den Militärexperten Philipps O‘Brien, Professor für strategische Studien an der britischen St. Andrews Universität, hat sich diese Entwicklung abgezeichnet.

Einige Leute sind einfach auf die russische Armee reingefallen und dachten, die sei besser, als sie eigentlich ist. Aber der Krieg läuft schon seit Monaten in diese Richtung: Russland musste schwere Verluste verkraften. Sie hatten sehr kleine Landgewinne, verbunden mit hohen Kosten im Donbass.

Die Ukraine bekommt immer bessere Systeme, bildet die Soldaten immer besser aus, kämpft klüger. Und auf der russischen Seite passiert das Gegenteil.

Philipps O‘Brien, Militärexperte

Es wirkt so, als seien russische Einheiten nun gezwungen, sich aus der Gegend hastig zurückzuziehen. Nach verschiedenen Schätzungen könnte es sich um 5000 bis 7000 Soldaten handeln. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskij kommentiert das so: „Die russische Armee führt das vor, was sie am besten zeigen kann: ihren Rücken. Und es ist für sie keine schlechte Wahl, die Flucht zu ergreifen.“

Russlands Regierung spricht von "Umgruppierung"

Einige Tage nimmt das russische Verteidigungsministerium zur Lage im Gebiet Charkiw keine Stellung. Bis Sprecher Igor Konaschenkow schließlich verkündet:
„Um die angekündigten Ziele der militärischen Spezialoperation zur Befreiung des Donbass zu erreichen, wurde die Entscheidung getroffen, die russischen Truppen umzugruppieren. Sie sollen nun die Truppen in Richtung Donezk verstärken. Zu diesem Zweck wurde die Gruppierung zurückgezogen und in die Volksrepublik Donezk verlegt. Dabei wurde eine Reihe von Ablenkungs- und Vorführmanövern umgesetzt.“
Kritik am Handeln des russischen Militärs gab es zuletzt in staatsnahen TV-Sendern. Dort und auch im Parlament wurde erstmals von einem "Krieg" gesprochen. Unter den verschärften Zensur-Gesetzen konnte das bisher als Diskreditierung der russischen Armee gewertet werden. Bußgelder oder sogar hohe Gefängnisstrafen wurden angedroht.
Auch öffentliche Kritik an Russlands Machthaber Putin taucht nun auf. Von Lokalpolitikern aus St. Petersburg und Moskau wurde eine Petition gestartet für den Rücktritt Putins, weil die Handlungen Putins Russland schaden würden. Ein breiter Stimmungswechsel ist im Land aber nicht zu beobachten.

6000 Quadratkilometer zurückerobert

Nach etwas mehr als einer Woche gibt die Ukraine offiziell an, mehr als 6000 Quadratkilometer im Gebiet Charkiw zurückerobert zu haben. Das ist ein Areal, fast siebenmal so groß wie die Fläche Berlins.
Auf Bildern, die ukrainische Soldaten in sozialen Medien veröffentlichen, ist zu sehen, dass viele Ortschaften stark zerstört sind. Darunter auch die Stadt Izjum. Nach wochenlangen Kämpfen war sie Anfang April an die russischen Truppen gefallen. Während der Besatzung wurden laut der Stadtverwaltung 80 Prozent der Infrastruktur zerstört. Etwa ein Viertel der rund 45.000 Bewohner sei immer noch in Izjum, sagte Maksym Strelnikow, Abgeordneter des Stadtrates.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Zelenskyy auf dem Weg zur Flaggenhissungszeremonie in Izjum, nachdem die ukrainischen Streitkräfte die Kontrolle über die Stadt von den russischen Streitkräften in Charkiw, Ukraine, am 14. September 2022 übernommen haben.
Auf dem Weg zur Flaggenhissungszeremonie: Ukraines Präsident Wolodymyr Selenskij kam ins befreite Izjum.© Getty Images / Anadolu Agency / Metin Akta
Er erhob schwere Vorwürfe gegen russische Einheiten: „Nach den Informationen, die uns zurzeit vorliegen, sind nicht weniger als 1000 Einwohner infolge der Kampfhandlungen gestorben. Wir schätzen jedoch, dass leider noch mehr Menschen zu Schaden gekommen sind, weil sie die notwendige medizinische Hilfe nicht bekommen konnten. Weil russische Besatzer noch im März alle Gesundheitseinrichtungen in Izjum zerstört hatten. Der Zugang zu Medikamenten war eingeschränkt.“

Gegenoffensiven nicht überall möglich

Doch so rasch wie im Nordosten geht es zum Beispiel im Süden nicht voran.
Militärexperte Oleh Schdanow gegenüber ukrainischen Medien: „Wir verfügen nicht über derartig riesige Reserven, um solche Gegenoffensiven in alle oder in die meisten Richtungen zu starten. In Richtung Cherson ist unsere Methode, deren Gruppierung langsam zu ersticken, so würde ich es nennen.“
Es geht um russische Truppen links des Flusses Dnipro. Sie sitzen dort offenbar in der Falle. Denn die Ukrainer haben sämtliche Brücken und Überfahrten zerstört. Und sie behaupten die Verkehrsachsen unter Feuerkontrolle zu halten. Für mehrere Tausend russische Soldaten scheint weder Rückzug noch Waffennachschub möglich. Große Geländegewinne sind Ukrainern dort jedoch bisher nicht gelungen.
Natalja Humenjuk, Sprecherin des ukrainischen Militärs im Süden, zeigte sich trotzdem zuversichtlich: „Unsere Erfolge sind im Laufe der vergangenen beiden Wochen ziemlich überzeugend. An verschiedenen Abschnitten sind wir von vier bis zu einigen Dutzend Kilometer vorgerückt. Wir haben etwa 500 Quadratkilometer Fläche befreit.“
Humenjuk ergänzte, fünf weitere Siedlungen im Gebiet Cherson seien neulich unter ukrainische Kontrolle gebracht worden.

Rückeroberung wird noch lange dauern

Aus der Sicht von Militäranalyst Oleh Schdanow wird die Gegenoffensive noch lange dauern – mit wechselnden Erfolgen.

Es wird sprunghaft sein. Wir haben aktuell ein relativ großes Gelände befreit, man muss irgendwann Stopp machen und die Stellungen festigen: Weil wir die Kräfte neu gruppieren müssen, um das Territorium im Falle eines russischen Gegenschlags zu verteidigen. Denn das russische Militär wird aus aller Kraft versuchen zurückzuschlagen.

Oleh Schdanow, Militäranalyst

Die ukrainische Armee könnte bald mit der Rückeroberung des Gebiets Luhansk beginnen, so äußerte sich zumindest der dortige Gouverneur. Er rechnet mit einem Widerstand der russischen Seite und Gefechten.
Die Kämpfe könnten auch 2023 noch weitergehen, schrieb der Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte Walerij Saluschnyj kürzlich in einem ausführlichen Artikel. Ziel sei es, die Ukraine vollständig zu befreien, inklusive der Krim. Die Russische Föderation wurde im Artikel ein blutrünstiges Raubtier genannt. Es hieß, die Weltgeschichte werde es keinem Land verzeihen, wenn es sich damit einlässt.

Zahl hoher russischer Verluste "schwer zu bestimmen"

Der ukrainische Oberbefehlshaber sprach bei einem Kongress über Kriegsopfer in Kiew erstmals von inzwischen 9000 getöteten Militärangehörigen.
Auf russischer Seite sei die Zahl weitaus höher, meint der britische Militär-Experte Phillips O’Brien: „Die ukrainische Regierung spricht von rund 50.000 getöteten russischen Soldaten. Das ist vermutlich nicht so weit weg von der Realität. Wenn wir über Getötete und Verwundete sprechen, sind es mutmaßlich zwischen 100.000 und 150.000 Russen. Das ist aber schwer zu bestimmen.“
Er erläutert: „Es gibt neben der russischen Armee viele lokale Milizen – es gibt die Wagner-Söldner – also alle Verluste zu überblicken, ist schwer, aber ich denke, sie sind groß. Russland erreicht bald die Zahl der Getöteten, die die USA im gesamten Vietnamkrieg hatten.“
Die hohen Verluste der russischen Armee könnten im nächsten Jahr zu einem Problem werden, meint der Brite:
„Wenn Russland nicht mobilmacht, wird es das nächste Jahr nicht durchkämpfen können. Wenn Russland einen langen Krieg will, muss es die Leute einziehen. Die jungen Leute aus St. Petersburg, Moskau, diejenigen, die sie nicht mobilisieren wollten, denen sie keine Angst machen wollten. Die müssen sie in die Armee schicken, ausbilden und in den Kampf schicken. Wenn nicht, werden Russland irgendwann im nächsten Jahr die Soldaten ausgehen.“
Mehr zum Thema