Im Nachhinein erscheint es merkwürdig, wie sehr Politik und Öffentlichkeit in Deutschland vom Ausbruch des Ukraine-Kriegs überrascht wurden. Auch Wissenschaftler haben die Gefahr unterschätzt, sagt der Politologe Timm Beichelt. Das hatte Gründe.
Haben Wissenschaft und die politische Öffentlichkeit versagt, indem sie den russischen Überfall auf die Ukraine nicht vorhergesehen haben? Die Antwort lautet aus meiner Sicht: nein und ja.
Studien über die Urkaine gibt es zuhauf
Seit Jahren gab es in der Wissenschaft Stimmen, die uns die Ukraine erklärt und auch vor der russischen Aggressionsbereitschaft gewarnt haben. Sicher, es fehlt in Deutschland an Professuren oder gar Forschungszentren, die sich auf die Ukraine konzentrieren. Aber es wäre falsch zu behaupten, dass es keine einschlägige Forschung gegeben habe. Eigentlich fallen mir keine anderen europäischen Länder ein, zu denen so viel gearbeitet wird wie zu Russland und der Ukraine.
Wer nur wollte, konnte sich in den letzten Jahren leidlich über die Geschichte, Gesellschaft und Politik der Ukraine informieren, und es finden sich zuhauf Studien, die den russischen Militarismus und die Korrumpiertheit der Clique um Wladimir Putin beschreiben.
Warnende Stimmen wurden nicht gehört
Aber die warnenden Stimmen wurden nicht gehört, und im Nachhinein müssen wir uns fragen, warum das nicht geschah. Eine Antwort verweist in die Sphäre der Öffentlichkeit und zu den Logiken, nach denen bestimmte Themen und Positionen Aufmerksamkeit erfahren – und andere eben nicht. Da ist zum einen die Fokussierung auf Dinge mit Nachrichtenwert. Eine einigermaßen funktionierende und zudem zivile Demokratie in der Ukraine gehörte lange Zeit nicht dazu, und in welchem Maß die irrsinnigen Geschichtsinterpretationen von Wladimir Putin von diesem selbst geglaubt werden, davon war ja sogar die russische Militärführung überrascht.
Also ist es kein Wunder, wenn Zeitungsredaktionen nicht jede Spekulation abdrucken wollten und wenn wissenschaftliche Osteuropakonferenzen auch in den letzten Jahren kaum Resonanz fanden, obwohl Russland spätestens mit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim seine Bereitschaft gezeigt hat, militärisch gegen die Ukraine vorzugehen, obwohl Russland seit Jahren eine Destabilisierungspolitik in der Ostukraine betreibt.
Ukraine im Prozess der Nationsbildung
Es gibt aber noch einen weiteren Grund, warum hier die Rezeptoren der westlichen Öffentlichkeit offensichtlich völlig falsch ausgerichtet waren. In Deutschland wird viel darüber nachgedacht, ob die EU im Verhältnis zur nationalen Politik gestärkt werden sollte. Die Ukraine dagegen befindet sich, selbst wenn es lange vor der Sowjetunion eine wichtige Nationalbewegung gegeben hat, weiterhin im Prozess der Nationsbildung. Das zeigt sich schon daran, dass es in Russland weit verbreitet ist, der Ukraine kein Existenzrecht zuzubilligen.
Hier müssen sich wohl die allermeisten hiesigen Experten an die Nase fassen, denn sie haben die Herabwürdigungen nicht nur der russischen Führung, sondern auch vieler russischer Medien und Kulturschaffender immer wieder heruntergespielt. Wissenschaftler mit Ukrainebezug wussten es einerseits besser. Andererseits sahen und sehen sie es als ihre Aufgabe an, sich zum Anwalt der ukrainischen Sache zu machen. Das passt nicht zum Selbstverständnis der deutschen Wissenschaft, denn die deutsche Öffentlichkeit arbeitet an der Schwächung der Nation, die ukrainische möchte sie ganz entschieden aufwerten.
Ist es Putins oder Russlands Krieg?
Darf es in der Wissenschaft Nationalismus geben, solange er defensiv ausgerichtet ist und sich gegen eine imperiale Macht richtet? So lautet die Frage, vor die sich die Wissenschaft heute angesichts der ukrainischen Tragödie gestellt sieht. Und es steht im Raum, ob wir trotz der eigenen nationalsozialistischen Vergangenheit den russischen Neo-Faschismus als solchen benennen dürfen – was bedeuten würde, in Betracht zu ziehen, dass Wladimir Putin recht gut zur revanchistisch gestimmten Bevölkerungsmehrheit Russlands passt. Putins Krieg wäre dann Russlands Krieg, und vor dieser Schlussfolgerung zucken nicht nur Sozialdemokraten zurück.
Diese Fragen sind unangenehm, und ich habe lange und wider besseres Wissen an ihnen vorbeigehört. Daher war auch ich nicht in der Lage, die eigentlich auf der Hand liegenden Konsequenzen für möglich zu halten.
Timm Beichelt ist Professor für Europa-Studien an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Europäische Union, Demokratie in Osteuropa, Kultur und Politik, sowie der Rechtsradikalismus in Osteuropa. Zuletzt erschien von ihm das Buch "Homo Emotionalis. Zur Systematisierung von Gefühlen in der Politik". Wiesbaden: Springer VS, 2021.