Besonnenheit statt Eskalation
Alle Versuche, Russlands völkerrechtswidrige Annexion der Krim zu relativieren, sind gescheitert. Die Zeit ist überreif für einen friedensrettenden Gegenkurs, kommentiert Thomas Nehls.
Nahezu alle Hoffnungen haben getrogen. Die zahlreichen Gespräche von Berlin nach Moskau und zurück – die zwischen Angela Merkel und Wladimir Putin ebenso, wie die zwischen Frank-Walter Steinmeier und Sergej Lawrow – haben so wenig erbracht wie die noch immer intakten Verbindungen der amerikanischen mit der russischen Regierung. Und auch alle Versuche, die völkerrechtswidrige Annexion der Krim zu relativieren, mit Rückgriffen in die Geschichte und auszugsweise auch unter Hinweis auf Selbstbestimmungsrechte der Bewohner der Halbinsel, sind gescheitert.
Die Empfehlungen der wenigen besonnenen Regierungen in Europa, trotz der Rigorosität Russlands den Gesprächsfaden nicht vollends abreißen zu lassen, laufen ins Leere. Nicht einmal die Entsendung einer OSZE-Beobachtergruppe – sozusagen der kleinste gemeinsame Nenner der gesammelten Überbrückungsversuche – ist unter Dach und Fach.
Frühere Einmischungen der USA unerwähnt
Als gäbe es international keine Vergleiche zu dem Rechtsbruch Russlands, wird in der westlichen Welt weitgehend so getan, als habe der machtbesessene Kreml-Chef nur darauf gewartet, sein Territorium vergrößern und damit seinen Untertanen imponieren zu können. Dass vor allem die Vereinigten Staaten in den vergangenen Jahrzehnten keineswegs nur in ihrem mittel- und südamerikanischen Hinterhof einmarschierten und sich dafür im UNO-Sicherheitsrat oft nicht einmal gerechtfertigt haben, bleibt vielfach unerwähnt. Oder es wird mit dem Hinweis bagatellisiert, bei den Aktionen der USA habe es sich aber bitteschön nicht um Besetzungen gehandelt. Als ob zwischen Angliederung und Protektoratszuständen sonderliche Unterschiede bestünden.
Erstaunlich ungeschminkt ist aber die andauernde Einmischung der nach wie vor von Washington dominierten NATO. Als hätte dieses Militärbündnis weder 2008 in Georgien noch immer wieder eben auch in der Ukraine mit dem Feuer gespielt, tut ihr Generalsekretär geradezu überrascht vom Lauf der Dinge in der Region. Georgien wurde – vor, wie nach den Scharmützeln mit Russland – ein NATO-Beitritt auf Geheiß von US-Präsident George W. Bush geradezu aufgedrängt. Und auch für Kiew wurde die Mitgliedschaft nie völlig ausgeschlossen. Eine wirkungsvolle Verhütungsmethode heutiger Exzesse wäre es gewesen, sich bei der Ausweitung der NATO faktisch und gedanklich zurückzuhalten. Auch wenn entsprechende Zusagen nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und im Schlepptau der deutschen Einigung wohl nur andeutungsweise gemacht wurden. Diese Facette der damaligen Verhandlungen heute zu leugnen, ist historisch frevelhaft.
Eingetretene Eiszeit begrenzen
Bleiben die Bemühungen, die im Nullkommanichts eingetretene Eiszeit in den Beziehungen wenigstens materiell zu begrenzen und nicht völlig unberechenbar zu gestalten. Die Folgen der ersten EU-Sanktionen dürfen ja noch als überschaubar eingestuft werden; die der Russen in Richtung USA auch – der streitbare Senator McCain bedauerte bereits sarkastisch, nun den Osterurlaub nicht in Sibirien verbringen zu können.
Aber was ist, wenn Handel und Investitionen geschmälert werden? Was, wenn Abrüstungsexperten in Ost und West in ihrer Sorge bestätigt werden, dass jahrelanges Ringen um weitere nukleare Abrüstung und konventionelle Rüstungskontrolle außer Kraft gesetzt wird? Hardliner im Kreml und in der NATO drehen übrigens längst auch an dieser Schraube in Richtung Stillstand. Und die verbalen Scharfschützen – ob in Russlands staatlichem Fernsehen, in Deutschland vor allem im Haus der Springer-Presse oder in den Zentralen, der auch von der Rüstungsindustrie finanzierten amerikanischen Think Tanks, tun das Ihre, um einer weiteren Eskalation den Weg zu ebnen.
Der Höhepunkt hierzulande sind dabei Auflistungen besonnener Stimmen - und deren Brandmarkung als Dilettanten wenn nicht gar Putin-Protagonisten. Journalisten als Meinungspolizisten – eine eher unverträgliche Verquickung.
Die Zeit ist überreif für einen friedensrettenden Gegenkurs. Toi, toi, toi für Frank-Walter Steinmeier heute in Kiew. Auch von dort aus lässt sich mit dem Kollegen Lawrow in Moskau telefonieren.