Ukraine

Revolution ohne Ton

Von Max Thomas Mehr · 04.03.2014
Revolution zum live Zugucken – das ist eine Errungenschaft des Internets. Der Journalist Max Thomas Mehr konnte sich zuletzt dem Live-Stream vom Maidan kaum entziehen. Doch fehlte die Tonspur. Es blieben mächtige Bilder, die verwirrt zurücklassen.
Ich habe in den letzten Wochen viel Zeit mit der Revolution in der Ukraine verbracht. Nein, ich war nicht auf dem Maidan. Aber der Maidan war oft als kleiner Bildschirm-Screen oben links auf meinem Laptop zugegen. Live. Ich sah die beruhigenden Bilder des friedlichen Zeltlagers am frühen Morgen, wo Demonstranten bei Sonnenaufgang mit dem Besen für Ordnung und Sauberkeit sorgten und sah später die Kämpfe mit den Spezialkräften der Polizei, die mit ihren glänzenden Metallschilden an römische Legionäre erinnerten und am liebsten den Platz geräumt hätten. Eine Szene wie in einem Amphitheater.
Vor allem "UKR-Stream TV" hatte es mir in den vergangenen Wochen angetan. Ein offenbar unabhängiger oppositioneller Sender, der nur wenige Kameraeinstellungen lieferte: eine Totale von der Bühne mit den Zelten im Hintergrund, eine Totale von den Zuschauern vor der Bühne. Und als noch gekämpft wurde, ein paar Einstellungen, die das Geschehen an den Barrikaden zeigten. Mit einer Ernsthaftigkeit im Straßenkampf, die mir fremd war. Straff organisierte Menschenketten reichten den Nachschub an Holz und alten Autoreifen für die Barrikaden weiter und die Pflastersteine und Molotow-Cocktails auch. All das zur Verteidigung eines Zeltlagers! Einer Bühne! Und eines EU-Freihandelsabkommens! Und auf der anderen Seite der Barrikaden sah ich die gut ausgerüsteten Berkut-Polizisten mit ihren Scharfschützen und Wasserwerfern.
Die Bilder erzählen nur einen Teil der Geschichte
Irgendwie absurdes Theater, wenn es nicht die mehr als 100 Toten und mehr als 1.000 Verletzten gegeben hätte. Ich sah sehr erwachsen wirkende Demonstranten, denen die Verspieltheit jugendlicher Straßenkämpfer fehlte, wie wir sie aus den westeuropäischen Metropolen kennen. Keine "streetfighting men". Die Sehnsucht nach europäischer Normalität mit Rechtsstaat, Marktwirtschaft und (Reise-)Freiheit – auch die konnte man den Demonstranten nicht ansehen. Aber die Flaggen auf ihrem "Euro-Maidan" waren eindeutig: Neben den blaugelben der Ukraine weht überall die blaue Fahne der EU.
Das Herz dieser Revolution war und ist allerdings nicht die Zeltstadt der Demonstranten, sondern die Bühne an deren Rande. Auf dieser Bühne spielte die Revolution. Bis eben noch. Hier verständigten sich Demonstranten und ihre Wortführer auf ihren Weg nach Europa. Auf dieser Bühne konnten wir in den letzten Monaten Vitali Klitschko sehen, oft beklatscht und umringt von Anhängern und Medien. Hier hatte er später aber auch einen schweren Stand, als er ziemlich allein die Verhandlungsergebnisse zwischen den EU-Emissären und dem verhassten Präsidenten Viktor Janukowitsch verteidigen wollte.
Und doch erzählten all diese Bilder nur einen Teil der Geschichte. Denn die Tonspur der Revolution, sie fehlte: Zwar haben die Webseiten von ARD und Spiegel-Online den Livestream vom Maidan öfter stundenlang übertragen – aber warum haben sie diesen Hilferuf nach EU-Europa nicht übersetzt. So zerfällt die Wirklichkeit dort für uns in Bilder, die wir sehen können, und in eine Erzählung, die wir nicht verstehen. Die uns verwirrt zurücklässt.
Dort sterben sie für Europa, hier hadern wir mit dem Euro
Ist es mangelndes Interesse? In denselben Medien höre und lese ich dann, dass der Maidan von rechten Nationalisten und Antisemiten unterwandert sei. Nicht nur Gysis Linke warnt. Die Putinisten sprechen gar vom faschistischen Mob in Kiew, gegen den sie auf der Krim ihr Militär aufmarschieren lassen. Doch die Bilder geben das nicht her.
Im Internet lässt sich auf einer entlegenen Seite sogar ein Interview mit einem jüdischen Kommandanten des Maidan finden, der den sogenannten rechten Sektor der Opposition gegen den Vorwurf des Antisemitismus ausdrücklich in Schutz nimmt. Das beruhigt. Aber Zweifel sind gestreut, und eine europäische Öffentlichkeit gibt es nicht, die diese Zweifel aufklärt.
Vielleicht wollen wir ja auch gar nicht so genau wissen, warum Demonstranten in Kiew für Europa sterben, während wir satt und ängstlich unsere niedrigen Wohlstandszinsen beäugen und mit dem Euro hadern.

Max Thomas Mehr
Max Thomas Mehr© privat
Max Thomas Mehr, Jahrgang 1953, ist politischer Journalist und Fernsehautor. Er hat die Tageszeitung "taz" mitbegründet. Für das Drehbuch des Films "Sebnitz: Die perfekte Story" (Arte) wurde der Dokumentarfilmer mit dem Bayerischen Fernsehpreis ausgezeichnet.
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