Ruf nach Freiheit droht zu verhallen
Zweimal - 2004 und 2014 - hatten junge Ukrainer die Kraft, eine nicht-demokratische Regierung zu stürzen. Doch diesmal müsse Europa unterstützend helfen, so der Osteuropa-Korrespondent Thomas Franke, damit der Ruf nach Freiheit nicht wieder verhallt.
Die Kraft des Geistes sei stets progressiv und endlos, schrieb einst Mahadma Gandhi. Diese Kraft wohne in jedem, Mann, Frau und Kind, ohne Rücksicht auf ihre Hautfarbe. Nur schlummere sie in manchen, könne aber durch sorgsames Training geweckt werden. In Kiew zeigte sich, wie wahr diese Worte sind.
Denn es waren trainierte junge Leute, die 2004 den Umsturz in der Ukraine herbeiführten. Sie waren trainiert von einer Gruppe von Studenten, die im Jahr 2000 in Serbien den Diktator und Kriegstreiber Slobodan Milosevic gestürzt und von Aktivisten, die 2003 in Georgien erfolgreich die Regierung zum Rücktritt gezwungen hatten.
Damals im Herbst 2004 wurden die Präsidentenwahlen nicht nur manipuliert, sondern der demokratische Kandidat, Viktor Juschtschenko, überlebte nur knapp eine Dioxinvergiftung. Sein Gesicht war fortan von Narben und Wulsten entstellt.
Studenten waren auf Orange-Revolution gut vorbereitet
Die gut vorbereiteten Studenten schafften es, die Menschen auf die Straße zu kriegen. Auf dem Maidan, dem zentralen Platz in der Hauptstadt Kiew, harrten Tausende bei strengem Frost aus, solange bis die Regierung gestürzt war.
Es war Zeit für einen Wechsel - und so hieß auch die Bewegung: Pora - Es ist Zeit. Ihre Farbe: Orange. Ihr Symbol: eine Uhr. Die Präsidentenwahl wurde wiederholt, Juschtschenko gewann. Die Revolution bekam einen Namen: Orange-Revolution. Sie wurde zum Synonym für derartig "bunte" oder "farbige" Umstürze. Und vor ihnen fürchten sich seitdem Diktatoren wie Wladimir Putin.
Der Sturz einer Regierung ist ein Kraftakt engagierter Demokraten. Oft sind die Kräfte danach verschlissen, die Aktivisten müde und abgekämpft. Dabei kommt die Mammutaufgabe erst anschließend, was 2004 nach dem Machtwechsel in der Ukraine mehr als deutlich wurde.
Kampf für Freiheit verlangt langen Atem
Freiheit ist ein hohes Gut und ein schwieriges. Es in einer Gesellschaft, die an die Unfreiheit gewohnt ist, zu verankern, erfordert nicht nur gute Politiker und Denker, es erfordert Geduld, Kampfkraft und den langen Atem der gesamten Bevölkerung.
Ein Buch hat eine Schlüsselrolle gespielt: "From Dictatorship to Democracy", "Von der Diktatur zur Demokratie", geschrieben von dem US-Soziologen Gene Sharp. Es hat nur etwas mehr als 100 Seiten, liest sich wie eine Anleitung zum Regierungssturz und hat viele inspiriert - auch die friedlichen Revolutionäre in Kiew.
Aber Sharp warnt auch. Niemand solle glauben, dass mit dem Sturz einer Diktatur sofort eine Idealgesellschaft entstehe. Er schaffe lediglich einen Ausgangspunkt für eine bessere Gesellschaft. Und tatsächlich: genau daran scheiterte die Ukraine nach dem Umsturz 2004.
Europa muss eine demokratische Ukraine unterstützen
Dubiose Gestalten, wie Julia Timoschenko, kamen an die Macht, Russland sorgte zudem für große Schwierigkeiten. Frustriert wählten die Ukrainer Viktor Janukowitsch, den sie kurz zuvor zum Teufel gejagt hatten. Die Antidemokraten schafften es, den Reformprozess zum Scheitern zu bringen und saßen anschließend fest im Sattel.
Normalerweise sind Demokraten dann so frustriert, dass sie der Gesellschaft den Rücken kehren, in die innere Emigration gehen oder das Land verlassen. Der Freiheitswillen der Ukrainer ist jedoch so stark, dass sie nur zehn Jahre später erneut auf den Maidan zogen. Aus dem Ruf nach mehr Freiheit wird der Schrei nach dem Sturz der Regierung, schrieb Heiner Müller einst in der "Hamletmaschine".
Zwei Jahre danach, ist die Gefahr in der Ukraine groß, dass der Ruf nach Freiheit, nach Reformen, nach einem Leben wie in Europa erneut verhallt. Zu hartnäckig sind die alten Strukturen. Und Russland tut alles, um die Reformen in der Ukraine scheitern zu lassen.
Deswegen muss dieses Europa, die freie Welt alles tun, damit die Ukrainer durchhalten und sich nicht endgültig frustriert von der Demokratie abwenden. Denn das nächste Mal könnte es länger als zehn Jahre dauern, bis sich wieder protestierende Massen in Bewegung setzen.
Thomas Franke, studierte Politologie, Geschichte sowie Soziologie und arbeitet seit 1989 als freier Journalist, ist Mitgründer des Büros "texte und toene" und spezialisiert auf Ost- und Südosteuropa. Seit 2012 lebt er ständig in Russland und berichtet für Deutschlandradio, ARD-Anstalten und die BBC.