"Die Ukraine muss endlich selbst sprechen"
Auch die Schriftstellerin Tanja Maljartschuk, die aus der Ukraine stammt und in Wien lebt,
glaubt, Putin wolle provozieren und so "Geschenke" bekommen
. Dennoch gebe es eine große Bedrohung und ihr gefalle, dass die Ukrainer angesichts dieser Bedrohung nicht Klopapier horteten, sondern Bücher.
Die politische Situation sieht Maljartschuk, die 2018 den Bachmann-Wettbewerb gewann, als sehr ernst: Es gehe mehr um Gas, Öl und die Nato als um die Ukraine und das Schicksal der Menschen dort, wirft sie den westlichen Staaten vor. Die Ukraine werde noch immer nicht als Subjekt gesehen, „sondern als Objekt, als ein Stück Kuchen am Schachbrett“. Dieses Stück Kuchen müsse endlich selbst sprechen. Die Weltmächte könnten nicht einfach das Schicksal der Ukraine ohne die Ukraine entscheiden.
Ukraine
Die Expertinnen und Experten in der Ukraine und in Russland schlagen einen anderen Ton an, als er aus den USA kommt. Der Tenor: Die Lage ist ernst, aber mit einem raschen russischen Einmarsch im Nachbarland ist nicht zu rechnen. © imago / ITAR-TASS / Alexander Reka
Wie hoch ist die Gefahr eines Krieges wirklich?
07:05 Minuten
Der Konflikt zwischen der Ukraine und Russland scheint sich immer mehr zuzuspitzen. Die Beurteilung eines möglichen Krieges fällt unter Experten aber recht unterschiedlich aus. Oder ist am Ende doch alles nur ein großer Bluff von Putin?
Als der Außenminister der USA, Antony Blinken, in der vergangenen Woche die Ukraine besuchte, da zitierte die Weltpresse vor allem seine eindringliche Warnung: Russland habe Pläne, seine Streitkräfte an der ukrainischen Grenze rasch weiter aufzustocken. Ein Angriff werde ernsthafte Konsequenzen für Moskau haben.
Die Reaktion des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj am gleichen Tag wurde kaum zitiert, sie klang ganz anders. Das Staatsoberhaupt veröffentlichte eine Videoansprache an die Nation:
„Ist Russland nicht schon 2014 in die Ukraine eingedrungen, ins Donezbecken? Leben wir nicht seitdem in der Gefahr eines großen Kriegs? Dieses Risiko ist nicht größer geworden. Größer geworden ist das Aufhebens um dieses Risiko. Das ist kein neuer Angriff auf unser Staatsgebiet, sondern auf eure Nerven. Ihr sollt ständig in Angst leben.“
Die Lage ist ernst
Auch die Expertinnen und Experten in der Ukraine und in Russland schlagen einen anderen Ton an, als er aus den USA kommt. Der Tenor: Die Lage ist ernst, aber mit einem raschen russischen Einmarsch im Nachbarland ist nicht zu rechnen.
Dabei nehmen auch sie die jüngsten Anzeichen wahr, die auf einen russischen Angriff hinzuweisen scheinen. Zuletzt waren dies die Fotos von Güterzügen, die Panzer und anderes militärisches Gerät von Russland nach Belarus transportieren, zu gemeinsamen Übungen, wie es hieß. Von dort aus sind es nur wenig über 100 Kilometer bis zur ukrainischen Hauptstadt Kiew.
Ein anderes Anzeichen aus den vergangenen Tagen nannte der ehemalige ukrainische Ministerpräsident Arsenij Jazeniuk in einer Talkshow:
„Wenn die russische Botschaft in Kiew die Familien von Diplomaten aus der Ukraine ausreisen lässt, dann ist das ein Warnsignal. Ich erinnere mich gut an 2014. Erst haben die Russen die Familienangehörigen des Botschaftspersonals ausgeflogen, dann kam die Intervention auf der Krim und dann in Donezk und Luhansk.“
Blufft Putin nur?
Und dennoch: Zu einem guten Pokerface gehöre eben, dass es maximal ernst aussehe, sagen Beobachter. So Roman Kostenko, Offizier des ukrainischen Geheimdienstes SBU und oppositioneller Parlamentsabgeordneter:
„Im Moment ist ein großflächiger Einmarsch auf unser Staatsgebiet wenig wahrscheinlich. Dafür reichen die Mittel, über die Russland in Grenznähe verfügt, nicht aus. Die Truppen, die da sind, wurden bisher nicht in entsprechende Gruppen für einen Angriff formiert. Ein Panzer kann 40 Mal schießen, dann muss er nachgeladen werden. Dafür braucht es Munition und Logistik. Unser Geheimdienst sieht bisher nicht, dass diese Voraussetzungen an einem konkreten Grenzabschnitt vorhanden wären.“
Experten nehmen Signale der Entspannung wahr
Beobachter in Russland können in den vergangenen Tagen sogar eine vorsichtige Entspannung erkennen. So der politische Berater Alexander Charebin gegenüber „Radio Swoboda“:
„Ich möchte auf die Rhetorik von russischen Regierungsvertretern hinweisen. Zunächst hat Moskau gefordert, dass sich die NATO de facto auf ihre Grenzen von 1997 zurückzieht, also vor dem Beitritt der Staaten in Osteuropa. Von dieser ins Uferlose getriebenen Forderung sind sie abgekommen und äußern sich zurückhaltender. Jetzt heißt es, die NATO solle ihren Beschluss von ihrem Gipfel in Bukarest 2008 revidieren.“
Damals beschlossen die NATO-Länder, Georgien und die Ukraine irgendwann in das Bündnis aufzunehmen – ohne ihnen allerdings eine klare Perspektive zu geben. Nach Ansicht von Charebin habe der russische Präsident Wladimir Putin gehofft, er könne die NATO-Länder spalten angesichts der militärischen Bedrohung. Doch damit sei er gescheitert.
Unterschiedliche Bewertung der Sachlage
Auch manche Momente, die im Westen als Zuspitzung wahrgenommen werden, bewerten russische Experten anders. So der Gesetzesantrag der kommunistischen Partei vergangene Woche, Russland solle die selbst ernannten sogenannten Volksrepubliken in der Ostukraine anerkennen.
Dass die Duma über nun dieses Gesetz beraten wird, sei mit dem Kreml abgestimmt, so Alexej Wenediktow, Chefredakteur des Radiosenders „Echo Moskwy“:
„Das ist von der Präsidialverwaltung inspiriert. Putin kann das für die Verhandlungen brauchen. Er kann zu den USA sagen: Schaut her, was wir für Scheusale im Land haben. Ich bin bereit zum Kompromiss, ich will die Minsker Vereinbarungen umsetzen, wonach das Donezbecken in den Schoß der Ukraine zurückkehren soll. Ihr US-Demokraten habt im Kongress die verrückten Republikaner, und wir haben auch so Verrückte. Wir sind in der gleichen Lage.“
Auch Wenediktow meint, dass die Zeichen derzeit eher auf Entspannung stehen.
Wie wahrt Moskau das Gesicht?
Und doch: Kaum jemand in der Ukraine oder in Russland schließt derzeit einen Krieg aus. Bei über 100.000 russischen Soldaten an der Grenze könne schon ein eher zufälliger Zwischenfall zu einer Kettenreaktion führen, meinen Experten.
Zudem bekomme Putin ein Imageproblem, wenn er durch seine Drohgebärden nichts erreiche, so der Psychologe und ehemalige Politiker Leonid Gosman gegenüber „Radio Swoboda“:
„Es geht dem Kreml ja nicht wirklich um Sicherheitsgarantien. Sonst könnte man ja darüber verhandeln, wie viele Raketen wo stationiert werden dürfen. Aber das will der Kreml nicht. Den Regierenden geht es um historische Größe. Sie sehen den Westen als schwach an, gerade jetzt, und wollen ihn einschüchtern. Wenn der Westen aber nun nicht ängstlich reagiert und die Ukraine nicht aufgibt – wie kann Putin sein Gesicht wahren? Es kann sein, dass er nur aus diesem Grund einen Krieg beginnt.“
Allerdings hat Moskau seine Botschaft für den Fall, dass es seine Truppen ergebnislos zurückzieht, schon zurechtgelegt. Kreml-Vertreter wiederholen, dass es ja in Wahrheit der Westen sei, der Krieg wolle.
Wenn nun alles friedlich bleibt, dann würde es im russischen Staatsfernsehen sehr wahrscheinlich heißen: Das sei allein das Verdienst der Regierenden im Kreml und ihrer militärischen Machtdemonstration gewesen.