Ukrainekonflilkt

"Die Menschen sind stark traumatisiert"

Ein kleines Mädchen in Donezk, Ostukraine.
Ein kleines Mädchen in Donezk, Ostukraine. Die Versorgungslage ist vielerorts schlecht, sagt Andrij Waskowycz von der Caritas. © Sputnik
Andrij Waskowycz im Gespräch mit Ute Welty |
Das Friedensabkommen für die Ost-Ukraine zeigt bislang kaum Wirkung. Deutschland, Frankreich, Russland und die Ukraine verhandeln erneut über die Krisenregion. Die Situation der Menschen sei prekär – es brauche dringend eine Lösung, sagt Andrij Waskowycz von der Caritas.
Ute Welty: Für Außenminister Heiko Maas ist es heute ein wichtiger Tag, denn nach langer Pause werden die Gespräche über den Ukraine-Konflikt wiederaufgenommen. Maas erwartet dazu die Amtskollegen aus der Ukraine und aus Russland und Frankreich. Umkämpft wird der Osten der Ukraine seit drei Jahren, und daran hat auch das Friedensabkommen von Minsk kaum etwas geändert. Andrij Waskowycz ist Direktor der Caritas in der Ukraine und er kümmert sich um die Menschen, die vom Konflikt und vom Krieg betroffen sind. Guten Morgen nach Kiew!
Andrij Waskowycz: Guten Morgen!
Welty: Es gibt für die Ost-Ukraine ein Friedensabkommen, das tagtäglich verletzt wird. Ist dieses Abkommen überhaupt das Papier wert, auf das es gedruckt wurde?
Waskowycz: Wenn man die Situation in der Kriegszone, wo der Krieg bis heute noch anhält, betrachtet, dann kann man das bezweifeln. Denn wir haben jetzt die Zahlen für April vorliegen, für den ganzen Monat April – das war der tödlichste und die Menschen am stärksten betreffende Monat. Da gab es 13 Tote und 33 Menschen wurden verletzt, alleine im Monat April. Das sind enorme Zahlen, wenn wir uns überlegen, dass das ein Krieg ist, der in Europa im 21. Jahrhundert stattfindet.

Viele alte Menschen kommen nicht mehr zurecht

Welty: Sie sind ja gerade noch mal in der Ost-Ukraine gewesen, was macht Ihnen nach diesem Besuch die größte Sorge?
Waskowycz: Sehen Sie, die Situation der Menschen ist immer noch prekär und das ist im vierten Jahr, im fünften Jahr des Krieges. Vier Jahre dauert der Krieg schon an im Osten des Landes und betrifft verschiedene Menschen. Er betrifft mehr als 3,1 Millionen Menschen, brauchen bis heute, vier Jahre nach Beginn des Krieges, bis heute humanitäre Hilfe. Sie sind in einer sehr prekären Situation. Das sind die Menschen, die in der Zone sind, die nicht von der ukrainischen Regierung kontrolliert wird. Dort haben wir kein genaues Bild, denn die humanitären Organisationen, die internationalen humanitären Organisationen, können nicht in dieses Gebiet ein… Können nicht ihre Hilfe leisten in diesem Gebiet.
Dann haben wir die Pufferzone, das ist eine 457 Kilometer lange Linie, die die beiden Gebiete trennt – das Gebiet, das nicht von der ukrainischen Regierung kontrolliert wird, und das Gebiet, das von der ukrainischen Regierung kontrolliert wird. Man spricht von der Pufferzone, von der 15 Kilometer von beiden Seiten, und dort leben etwa 600.000 Menschen, 200.000 auf der nicht-kontrollierten Seite und 400.000 auf der kontrollierten Seite. Die Menschen haben überhaupt keine Sicherheit, es wird immer wieder geschossen in diesem Gebiet. Dort leben vornehmlich alte Menschen, die nicht mehr zurechtkommen. Dort ist die Versorgung der Menschen nicht gesichert, im Winter ist es sehr schwierig in diese Ortschaften zu kommen. Die Menschen können ihre Felder nicht bebauen, denn es wird geschossen. Aber auch, vor allen Dingen, das Gebiet entlang dieser Kontaktlinie ist vermint. Es ist die am drittstärksten verminte Gegend in der Welt. Das heißt, die Menschen leben in einer vollkommenen Ausnahmesituation und wissen nicht, was sie machen sollen.

Die Verpflegung mit dem Nötigsten ist nicht gesichert

Welty: Vier Jahre der Krieg, drei Jahre das Friedensabkommen, das sogenannte. Und wenn Sie sagen, der Zugang ist so schwierig, und Sie beschreiben das ja sehr eindringlich, wie können Sie denn dann als Caritas überhaupt helfen?
Waskowycz: Wir haben einige Möglichkeiten. Wir haben Stationen, wir haben entlang dieses Gebietes etwa 20 Caritas-Stationen aufgebaut, von denen wir immer wieder in die Pufferzone, auch in die sehr gefährlichen Gebiete, fahren können, um den Menschen Lebensmittel zu bringen, um ihnen Medikamente zu bringen, um ihnen ärztliche Hilfe zu bringen, aber auch um psychologische Hilfe zu bringen. Die Menschen sind stark traumatisiert, das betrifft die alten Leute, die Erwachsenen, aber auch vor allen Dingen die Kinder, die dort leben. Dort gibt es Schulen, die immer wieder unter Beschuss leiden, nicht gezieltem Beschuss unbedingt, aber auch gezieltem Beschuss. Das heißt, dort leben die Menschen in ständiger Angst. Wir haben Programme aufgelegt, wo Menschen ausgebildet werden, um alten, bettlägerigen Menschen zu helfen, sozusagen ambulante Dienste zu schaffen, wo wir die Menschen bezahlen, die das tun, damit sie ihren Nachbarn helfen können. Denn auch diese Sachen, die Verpflegung der Menschen, die Pflege der Menschen, ist nicht gesichert in diesen Gebieten.
Welty: Trotz aller Hilfe: Viele Menschen haben die Ost-Ukraine inzwischen verlassen, sind geflohen, wohin haben sich dadurch die Probleme verlagert?
Waskowycz: Sehen Sie, wir haben in der Ukraine bis heute noch 1,5 Millionen Menschen registriert als Binnenflüchtlinge. In Europa wird die Flüchtlingsfrage stark diskutiert, in der Ukraine hatten wir seit Beginn des Konfliktes 1,7 Millionen Binnenflüchtlinge, heute sind etwa 1,5 Millionen registriert, die in dem Gürtel um den Donbass weggezogen sind. Das sind Menschen, die oftmals ohne Hab und Gut wegziehen mussten und die durch die Solidarität ihrer Menschen mitgetragen wurden.

Miete oder Lebensmittel

Aber die Ressourcen, die die Menschen hatten, und die Möglichkeit der Nachbarn, der Mitbürger, ihnen zu helfen, gehen nach unten. Heute stehen die Leute vor sehr schwierigen Fragen, sie müssen oftmals entscheiden, ob sie die wenigen Ressourcen, die sie noch haben, einsetzen sollen für die Miete oder für Lebensmittel, für Medikamente oder für die Erziehung der Kinder. Es gibt Fälle, wo die Menschen die Kinder aus der Schule nehmen, weil sie es sich nicht mehr leisten können, die Kinder zur Schule zu schicken. Wir haben solche erstaunlichen Phänomene wie Armutsprostitution, die ansteigt, wir haben Kriminalität, die durch Armut bedingt ist. Das sind alles Fakten, die damit zu tun haben, dass wir 1,5 Millionen Menschen heute noch haben, die aus ihrer Heimatregion weggehen mussten durch die Kriegshandlungen.
Welty: Was erwarten Sie dann von den Gesprächen der vier Außenminister heute in Berlin? Haben Sie überhaupt noch Hoffnung, dass es da eine Bewegung gibt zwischen den festgefahrenen Fronten?
Waskowycz: Ich glaube, dass die Gespräche natürlich davon abhängen, was die Ursachen des Krieges anbelangt. Das heißt, will Russland diesen Krieg fortsetzen gegen die Ukraine oder gibt es Anzeichen, dass sich Russland aus diesem Krieg zurückzieht? Das heißt, wenn Russland die Entscheidung fällt, dass sie die Separatisten nicht mehr unterstützt, dann könnte dieser Krieg, dann könnte sich die Situation dort normalisieren. Es hängt alles davon ab, was die Politik Russlands in diesem Konflikt will.
Welty: Andrij Waskowycz ist Direktor der Caritas in der Ukraine und wäre heute prädestiniert für einen Besuch im Auswärtigen Amt, das würde vielleicht helfen, wenn die vier Außenminister zusammenkommen, um über die Ukraine zu sprechen und die Chancen einer Friedensmission auszuloten. Herr Waskowycz , haben Sie herzlichen Dank für dieses "Studio 9"-Gespräch!
Waskowycz: Ich danke Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Mehr zum Thema