Ukrainekrieg auf Social Media

Front- und Todesmeldungen am laufenden Band

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Junge Menschen mit Smartphone und Laptop sitzen auf einer Rolltreppe in einer U-Bahn Station in Kiew und warten einen Luftangriffalarm ab. 13. Dezember 2022, Kiew, Ukraine.
In der U-Bahn die Luftangriffe auf Kiew abwarten und die Lage am Smartphone checken. Die tägliche Konfrontation mit Todesmeldungen und Frontbildern hinterlässt Spuren. © imago / ZUMA Wire / Oleksii Chumachenko
Von Jochen Dreier |
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Der Krieg gegen die Ukraine findet auch auf sozialen Netzwerken statt. Was früher weit entfernt an der Front passierte, ist jetzt in Minuten auf den Bildschirmen zu sehen: für Ukrainerinnen und Ukrainer eine große psychische Belastung.
Es ist eine unwirkliche Szene: Ein ukrainischer Soldat sitzt vor einem Klavier in einem halbzerstörten Wohngebäude. Es läuft der Song “Night Changes” der Boyband “One Direction”. Durch die Fenster ist ein zertrümmertes Bachmut zu sehen. Laute Explosionen begleiten die Musik. Unterschrieben wurde das Video bei Tiktok mit den Worten: Immerhin war das Musikstudium nicht umsonst.
„Man hat wirklich ein bisschen Angst, soziale Netzwerke aufzumachen in diesen Tagen“, sagt Denis Trubetskoy. Er ist ukrainischer Journalist und lebt in Kiew. Als Kind war deutscher Sport seine Leidenschaft. Oliver Kahn und Erik Zabel waren seine Idole. Später schrieb er auf Ukrainisch über die Bundesliga, lernt Deutsch, um Quellen direkt lesen und verstehen zu können.

Telegram als wichtigste Informationsquelle

Seit einigen Jahren berichtet er immer mehr über Politik, auch für deutsche Medien – und jetzt über die russischen Angriffe. „Es ist halt mittlerweile so, dass jeder jemanden kennt, der gestorben ist, der schwer verletzt wurde“, erzählt er im Interview, um dann zu unterbrechen. „Moment“, sagt er. „Ich muss die Aufnahme neu starten, weil der Luftalarm aufgehoben wurde. Da kam diese Warnmeldung.“ Nichts ist normal in der Ukraine, aber der Krieg Alltag, und genauso wie unser Alltag hier in Deutschland, ist auch der ukrainische von sozialen Netzwerken durchzogen. Einige wie Telegram sind sogar wichtiger denn je, erzählt Denis Trubetskoy.

Die meisten Menschen informieren sich in erster Linie über den Messenger Telegram. Das bestätigen auch Umfragen. Alle Medien sind dort vertreten. Das Ding funktioniert eben auch sehr schnell. Es gibt auch unzählige Kanäle, die über die Gründe für Luftalarm informieren.

Journalist Denis Trubetskoy

Soziale Netzwerke sind dabei Fluch und Segen zugleich. Unverzichtbar auf der einen Seite, doch Nachrufe auf gefallene Soldat:innen sind dort auch an der Tagesordnung. Zum Beispiel bei Twitter: ein Bild von einem jungen Mann mit seiner Tochter, die jetzt ohne ihn aufwachsen muss. Ein langer Trauerbrief seiner Frau dazu, in dem steht: “Ich hätte alles genommen, eine schwere Verletzung, eine posttraumatische Depression, eine dauerhafte Behinderung. Aber wir hatten kein Glück.”

Täglich Todesmeldungen und Frontbilder

Die tägliche Konfrontation mit Todesmeldungen und Frontbildern hinterlässt Spuren. Sei ein Freund oder Bekannter gestorben, erfahre man das meist über Instagram, sagt Denis Trubetskoy. „Da hatte ich auch eine krasse Erfahrung: Der Bruder einer Studienkollegin ist gefallen, aber auf der anderen Seite weiß man gar nicht mehr, ob man noch sprechen kann, wenn ihr Bruder auf der anderen Seite als Vertragssoldat gekämpft hat.“
Denis Trubetskoy stammt ursprünglich von der Krim, aus Sewastopol, hat dort studiert. Seit der Annexion ist er in Kiew, seine Eltern hat er seit 2017 nicht mehr treffen können. Und ein soziales Netzwerk, dass für auch lustige Stories, Urlaubsfotos und Beautyfilter bekannt ist, zeigt plötzlich, wie Russlands Krieg gegen die Ukraine das Land zerrissen hat.

Es gibt insgesamt in der Ukraine, das muss man wirklich sehr deutlich betonen, vermutlich keinen Erwachsenen, der jetzt wirklich mental ganz okay wäre.

Journalist Denis Trubetskoy

Auch außerhalb der Ukraine kämpfen die Betroffenen mit der ständigen Flut an Nachrichten. „Alle lesen schlechte Nachrichten. Sie müssen wissen, was passiert an der Front. Es gibt Menschen, die sehr depressiv sind“, sagt auch Yuliia Yurchenko. Die 22-Jährige studiert Deutsch und ist im April 2022 aus der Ukraine geflohen. Mittlerweile lebt sie mit ihrem Freund in Leipzig, der zu Beginn der Invasion im Ausland studiert hat. Jetzt können sie zusammen in Sicherheit sein.

Die Emotionen kontrollieren und unterdrücken

Mit ernsten, abgeklärten Augen sagt sie zum Thema Instagram und Todesmeldungen. „Das ist sehr traurig, das zu lesen. Aber ich versuche, meine Emotionen zu kontrollieren, und im Februar habe ich auch traurige Dinge überlebt. Ich habe gesehen, wie in meiner Heimatstadt Menschen sterben. Aber jetzt, glaube ich, sind meine Emotionen stabil."
Auch der Journalist Denis Trubetskoy in Kiew äußert sich ähnlich. Emotionen werden kontrolliert und unterdrückt. Gerade in der Rolle als Berichterstatter. „Das Rezept ist einfach: So weit es geht, Emotionen ausschalten.“ Eine Studie der Universität Boston hat 2019 gezeigt, dass eine konstante Konfrontation mit traumatischen Bildern und Nachrichten über soziale Netzwerke und Massenmedien posttraumatische Belastungssymptome auslösen kann. 

Physischer und psychischer Terror

Die Ukraine ist ein Land unter täglichem physischen und psychischen Terror durch den Angriff Russlands, verstärkt durch soziale Medien, deren Konsum für Sicherheit und Alltag unvermeidbar ist. Das alles erfährt eine junge Generation, die von Corona direkt in einen Krieg gerutscht ist. 
„Es ist nicht nur das Problem von uns Erwachsenen, sondern auch eine extrem schwierige Situation und Ausgangslage für die Generation, die nach uns kommt“, sagt Trubetskoy. Diese Generation sieht bei Tiktok das Video des jungen Soldaten, der anscheinend mitten im Gefecht ein Lied einer Boyband auf einem Klavier spielt. Der Text handelt davon, dass – selbst wenn sich über Nacht alles ändert und alles, wovon man immer geträumt hat, verschwunden zu sein scheint – man doch immer noch man selbst bleiben würde.
Wir sind noch ganz am Anfang davon zu verstehen, wie sich dieser Krieg sich auf die Generation Social Media auswirken wird.
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