Zu den Kritikern des offenen Briefs und des Essays von Jürgen Habermas zählt der Schriftsteller Simon Strauß. Er findet das „Gerede“ von der Gefahr eines atomaren Weltkrieges wenig überzeugend . Russland sei schließlich nicht die einzige Atommacht und müsste mit einem ebenso verheerenden Gegenschlag rechnen, sollte es diesen Weltkrieg beginnen. Strauß ist der Ansicht, hinter diesem Gerede stehe eine „große Angst um den eigenen Wohlstand und den eigenen Pazifismus, mit dem man sich jetzt so gut angefreundet hat“.
Appell an Olaf Scholz
Im schlimmsten Fall kann sich der Ukrainekrieg zu einem dritten Weltkrieg ausbreiten. Waffen wie die Atomraketen vom Typ Topol-M könnten dann eingesetzt werden. © picture alliance / dpa / Yuri Kochetkov
Ein Atomkrieg muss unbedingt verhindert werden
10:31 Minuten
Intellektuelle und Künstler warnen vor einer Eskalation des Ukrainekriegs und der Gefahr eines Atomkriegs. Sie appellieren an Bundeskanzler Scholz, bei seiner besonnenen Haltung zu bleiben und keine schweren Waffen zu liefern.
28 prominente Künstler und Wissenschaftler haben am Freitag in einem offenen Brief an Bundeskanzler Scholz appelliert, seine besonnene Haltung im Ukrainekrieg beizubehalten. Unterzeichnet hat den Brief unter anderem Alexander Kluge.
Als der Zweite Weltkrieg begann, war Kluge sieben Jahre alt. Im Deutschlandfunk begründete der Filmemacher und Autor, warum er eine eskalierende Aufrüstung für
falsch hält
:
„Ich weiß ganz genau aus der Geschichte, dass, wenn alle Seiten schwach sind, ein Frieden möglich ist. Die Amerikaner haben Mitteleuropa und Deutschland nicht durch die Bombardierung befriedet, nicht dadurch, dass sie mit einer im Grunde unzuständigen Regierung Dönitz eine Kapitulation aushandeln, sondern dadurch, dass sie den Marshallplan gemacht haben. Man muss jetzt schon überlegen: Wie kann man die Ukraine wiederaufbauen? Das setzt voraus, dass man vorher so schnell wie möglich und um jeden Preis Frieden macht.“
Moskau entscheidet, wer Kriegspartei ist
Zu den Mitinitiatoren des offenen Briefes gehört der Hamburger Strafrechtler und Rechtsphilosoph Reinhard Merkel. Er erklärt die Motivation der Unterzeichnenden damit, dass sie die gegenwärtige Lage so einschätzen, dass "wir uns roten Linien verbotener Risiken nähern“. Gemeint ist damit ein möglicher atomarer Konflikt mit Russland, der die ganze Menschheit gefährden könnte.
Die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine durch Deutschland berge ein solches Risiko. Ob Deutschland dadurch zur Kriegspartei wird, werde letztlich, so Merkel - „wenn man das knapp und ein bisschen politisch zynisch formuliert“ - in Moskau entschieden.
Beispiel Irak-Krieg
Der Rechtsphilosoph führt ein Beispiel aus dem Irakkrieg vor knapp 20 Jahren an. Damals hatten die USA bei ihrem illegitimen Angriffskrieg auf den Irak mit verbündeten Staaten die sogenannte Koalition der Willigen gebildet, darunter war auch die Ukraine. Die einzelnen Beiträge der Alliierten waren Merkels Ansicht nach relativ belanglos. Doch hätten die USA alle Teilnehmer als Kriegsparteien deklariert.
An diesem Beispiel sieht man, dass es in der Betrachtung, wer als Kriegspartei gilt und wer nicht, zumindest einen gewissen Entscheidungsspielraum für Staaten gibt. „Ob der Rest der Völkerrechtler da zustimmen würde, ist dann eine andere Frage", so Merkel.
Ebenfalls am Freitag ist ein Aufruf des Philosophen Jürgen Habermas in der Süddeutschen Zeitung erschienen. Auch er formuliert darin die Sorge, dass Deutschland durch weitere Waffenlieferungen zur Kriegspartei werden könnte, was in den sozialen Medien als Aufruf zur Kapitulation aufgefasst und heftig kritisiert wurde. Doch dieser Vorwurf sei falsch, so Merkel. Es gehe Harbermas genauso wenig wie ihm und den Unterzeichnern des Appells um Pazifismus.
Merkel stellt klar, dass Russland einen illegitimen Angriffskrieg gegen die Ukraine führt und man nicht einfach zurückzucken dürfe, weil Russland eine Atommacht ist. Denn: "Dieser Angriffskrieg tastet tatsächlich die Grundnorm des Völkerrechts an. Es gibt zunächst einmal eine politisch-moralische Pflicht zum Widerstand.“
Rote Linien
Aber wenn es ein manifestes Risiko gebe, dass die Eskalation nicht mehr gestoppt werden und zu einem atomaren Konflikt führen könne, "dann ist die Schmerzgrenze erreicht", dann wäre es "moralisch verwerflich, weiterhin dazu beizutragen, dass die Eskalation zunimmt und am Ende eine verheerende Katastrophe für möglicherweise die ganze Menschheit daraus entsteht“.
Genaue Linien könne man nicht ziehen, aber beide Normen müsse man im Blick behalten: den legitimen Widerstand und die potenzielle Eskalation des Kriegs zu einem Atomkrieg.
„Selbst wenn ein Waffenstillstand jetzt ausgehandelt würde: Russland wird noch Jahre - um nicht zu sagen Jahrzehnte - unter dem Druck der Konsequenzen dieses Völkerrechtsbruchs zu leiden haben. Man gibt nicht einfach nach, aber irgendwann muss der Waffenstillstand ausgehandelt werden.“
Auch Widerstand kann illegitim werden
Denn auch Widerstand werde irgendwann illegitim, so Merkel; dann nämlich, wenn er nur noch um den Preis der totalen Zerstörung des Landes möglich sei. Das sei dann eine Frage der Normen und der politischen Ethik, die dann nicht mehr „deckungsgleich wäre mit der Reichweite der Regierung in Kiew“.
"Ab einer bestimmten Grenze der verheerenden menschlichen Opfer an Leben und Leid gibt es eine unbedingte politisch-moralische Pflicht, der Regierung in Kiew zu sagen, wir sind zu Waffenstillstandsverhandlungen bereit, und zu signalisieren, dass man einen vernünftigen Kompromiss anstrebt, der beiden Seiten die Wahrung des Gesichts lässt. Das hat die Ukraine vor einigen Wochen getan und seither nicht mehr. Jetzt meinen wir, die Verfasser des offenen Briefes, ist es an der Zeit, über das Erreichen dieser roten Linie nachzudenken, jenseits derer die Fortsetzung des bewaffneten Kriegs um jeden Preis nicht mehr legitimierbar ist.“