In der Ukraine selbst blieben die meisten Menschen angesichts der Kriegsgefahr erstaunlich ruhig, so berichtet die Schriftstellerin und Übersetzerin Natalka Sniadanko im Interview . Doch die Sorge der Menschen sei groß. Es sei völlig klar, dass nur die wenigsten eine Möglichkeit hätten, das Land zu verlassen, falls es zu einem russischen Einmarsch komme.
Ukrainer in Berlin
Eine Frau in der Ostukraine vor ihrem Haus im umkämpften Gebiet. Viele Ukrainer in Deutschland sind in Angst um ihre Familien. © imago / ZUMA Wire / Andriy Andriyenko
Sorge um Verwandte in der Heimat
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In der Ukraine, in Russland und in ganz Europa wächst die Sorge vor einem Krieg. Auch Ukrainer in Deutschland sorgen sich um Verwandte und Freunde in der Heimat. Die Ungewissheit ist für sie kaum auszuhalten.
Yegor Yegorov spielt Chopin. Der 42-jährige Ukrainer lebt seit vier Jahren in Berlin, als Pianist und Musiklehrer. Alle zwei Monate reist er in die Heimat, nach Odessa, zu seiner Familie.
Das Lebenswerk der Eltern steht infrage
„Meine Eltern leben da, und sie haben ein ganzes Leben gearbeitet, sie haben da etwas investiert", erzählt Yegorov. Die Eltern hätten auf eine ruhige Zeit gehofft, aber jetzt stehe alles infrage.
Der Mann mit dem milden, freundlichen Lächeln auf den Lippen fühlt sich eng mit seinem Heimatland verbunden. Verwandte hat er auch in Russland, und er bezeichnet sich sogar als „Halbrussen“. Aber zugehörig fühle er sich zur Ukraine, so Yegorov, er schätze die Demokratie und Freiheit dort:
"Wenn man in der Ukraine ist, fühlt man sich frei, obwohl immer noch viel zu tun ist, aber es ist ein ganz anderes Gefühl. Ich fühle mich dort fast wie hier in Europa.“
Was tun, wenn es zum Krieg kommt?
Wie Yegorov stammt auch Natalia Pryhornytska aus dem Westen des Landes. Ihre Familie lebt jetzt in Kiew. Pryhornytska hat in Berlin Politologie studiert, hier lebt sie seit 15 Jahren. Früher war sie Mitarbeiterin der grünen Bundestagsabgeordneten Marieluise Beck. Jetzt gestaltet sie die Internetseite „Ukraine now“, die die deutsch-ukrainischen Beziehungen fördern will.
„Mein Tag beginnt mit Nachrichten und endet mit Nachrichten. Zwischendurch sind auch Nachrichten. Dieser Druck ist schwer zu beschreiben“, sagt Pryhornytska. "Nervenaufreibend“ nennt es die 33-jährige Hellblonde, sich ständig um die Lage daheim sorgen zu müssen. Die „enorme Unruhe“ in ihr könne sie nicht in Worte fassen. Oft telefoniert sie mit ihren Verwandten, häufig mit der Großmutter, die älter als 80 ist. Am Telefon spielen sie Szenarien durch, was sie tun könnten, wenn es zum Krieg kommt.
„Wenn ich weiß, dass ich in der akuten Situation wahrscheinlich keine Verbindung habe, nichts tun kann, ich habe überhaupt keinen Einfluss auf diese Situation. Das ist furchtbar“, sagt Pryhornytska.
Putins Poker mit dem Westen
Völlig anders klingt ein Mann, der unerkannt bleiben möchte. Vor 31 Jahren verließ er die Ukraine und lebt seither in Berlin, wo er eine Arztpraxis am Stadtrand betreibt: „Ich sehe keine große Gefahr. Ich denke, es kommt kein Krieg, echter Krieg. Dass die russischen Truppen die ukrainische Grenze angreifen, nein, das glaube ich nicht.“
Ja, in Sorge sei er schon, sagt er, aber „nicht in hysterischer Sorge“. Wir seien Zeugen eines Spiels um Geld zwischen Putin und der westlichen Welt, meint der Mann, der mit einer sowjetischen Identität aufgewachsen ist. Wie viele Ukrainer bezieht auch er sich immer wieder auf die Geschichte. So vergleicht er den Nationalismus der Ukrainer heute mit dem der Deutschen damals:
„In Deutschland ist das auch passiert, 1933 hat es angefangen, und der Nationalismus hatte plötzlich in Deutschland eine Macht. Und jetzt haben wir fast genau das Gleiche in der Ukraine.“
Frage nach der Rolle Deutschlands
Den Vergleich zwischen der Zeit des Zweiten Weltkriegs in Deutschland und der jetzigen Situation bemüht auch ein Film des ukrainischen Außenministeriums, allerdings in einem ganz anderen Sinne. Die Ukraine beschütze ganz Europa vor der russischen Aggression, heißt es da.
Für die zögerliche Haltung der deutschen Regierung im Konflikt zwischen Russland und der Ukraine haben die meisten Ukrainer in Berlin Verständnis. Auch auf dem Höhepunkt der Krise wählen sie höfliche, ausgleichende Worte. Nur Natalia Pryhornytska, die Politologin, wird an einer Stelle deutlich:
„Ich wünschte, dass die deutsche Bundesregierung eine geschlossene und entschiedene Meinung hat – dass auch nicht diskutiert wird: Ist Nord Stream 2 eine Option oder nicht? Nord Stream 2 ist eine unglaubliche Abhängigkeit Deutschlands gegenüber Russland. Und das war von vornherein auch klar, und diese Stimmen wurden einfach nicht gehört.“