Geflüchtete Ukrainer

Kommentar: Ein Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung?

04:40 Minuten
Ein Mann hat sich auf einer Demo die Flagge der Ukraine über die Schultern gehängt.
Etwa 200.000 ukrainische Männer im wehrfähigen Alter sollen sich in Deutschland aufhalten. Sollten sie zum Kriegsdienst in ihr Heimatland eingezogen werden? © picture alliance / ZUMAPRESS.com / Sachelle Babbar
Ein Kommentar von Arnd Pollmann |
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Der Krieg in der Ukraine geht in aller Härte weiter – und der ukrainischen Armee gehen langsam die Soldaten aus. Kiew will deshalb Ukrainer im Ausland zum Kriegsdienst einziehen. Wie sollte sich Deutschland dazu verhalten? Arnd Pollmann kommentiert.
„Stell‘ Dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin!“ Einst war das die pazifistische Parole friedensbewegter Hippies. Doch nach zwei Jahren Ukraine-Krieg kommt diesem alten Demo-Slogan eine ungeahnte Realität zu, von der auch die deutsche Außenpolitik neuerlich auf die Probe gestellt wird: Etwa 200.000 ukrainische Männer im wehrfähigen Alter sollen sich hierzulande aufhalten. In der EU sind es insgesamt mehr als 600.000. Wenn die Ukraine diesen Krieg nicht verlieren soll – müssen diese Männer dann nicht zurück?
Die Rechtslage ist verworren: Grundgesetz, EU-Recht und völkerrechtliche UN-Verträge lassen geradezu jede Art von Argument zu. Manche sehen in der Kriegsdienstverweigerung einen tragfähigen Asylgrund, andere bestreiten genau dies, wieder andere halten eine Ausweisung für regelrecht angezeigt, wenn die Flucht Folge einer Straftat ist; man denke an Bestechung oder Passfälschung. Sortieren wir beide Alternativen ein wenig grundsätzlicher.

Grundpflicht zur Landesverteidigung

Ist man dafür, wehrpflichtige Ukrainer in ihr Land abzuschieben, geht man dabei meist von einer republikanischen Grundpflicht zur Landesverteidigung aus. Wer sich entzieht, für den müssen andere ihr Leben lassen. Es mag richtig sein, der Wehrmacht Nazi-Deutschlands oder jetzt der russischen Armee zu entfliehen, aber es sei falsch, der Ukraine den Rücken zu kehren, die für eine gerechte Sache kämpfe. Aus Sicht deutscher Politik kommen hinzu: das Bekenntnis zu unbedingter Solidarität mit der Ukraine, teure Waffenlieferungen, aber auch wachsender Unmut aufgrund von kriegsbedingter Inflation und Zuwanderung. Wie soll man es da den gebeutelten Wählerinnen und Wählern hierzulande verständlich machen, dass sich wehrpflichtige Ukrainer zu Hunderttausenden entziehen dürfen?

Ausweisen in den sicheren Tod?

Allerdings würde man diese Männer nicht einfach nur „nach Hause“ schicken, sondern in einen zunehmend aussichtslosen Krieg – oder gar in den sicheren Tod. Mit welchem Recht? Wer dagegen ist, wehrpflichtige Ukrainer auszuweisen, beruft sich dabei meist auf menschenrechtliche Staatenpflichten. Jeder Staat muss das Leben, die Selbstbestimmung und auch die Gewissensfreiheit aller jeweils vor Ort lebenden Menschen respektieren. Und niemand darf ausgewiesen werden, wenn ihm zu Hause ein schwerwiegendes Unheil droht.
Doch auch diese Position hat einen doppelten Haken. Einerseits trägt man mit dieser Zurückhaltung womöglich zur Niederlage der Ukraine bei. Andererseits müsste dasselbe Argument dann besonders auch für russische Fahnenflüchtige gelten, denn hier würde am Ende gar sinnvoll der Feind geschwächt. Bislang jedoch haben russische Kriegsdienstverweigerer hierzulande kaum eine Chance auf Anerkennung. Ist diese Diskriminierung nicht extrem ungerecht?

Ein noch ungeschriebenes Menschenrecht

Wie man es dreht und wendet: Beide Positionen klingen heikel. Und vieles scheint an der Frage zu hängen, ob die Kriegsdienstverweigerung am Ende selbst ein noch „ungeschriebenes“ Menschenrecht ist. Die Begründung für ein solches Recht auf Kriegsmüdigkeit hat Kurt Tucholsky bereits im Jahre 1926 geliefert: „Unser Leben gehört uns. Ob wir feige sind oder nicht, ob wir es hingeben wollen oder nicht –: das ist unsre Sache und nur unsre. Kein Staat (…) hat das Recht, über das Leben derer zu verfügen, die sich nicht freiwillig darbieten.“
Man muss sich allerdings klar sein, was man sich mit diesem Menschenrecht einkauft: „Stell‘ Dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin“. Falls nämlich zu viele Menschen von diesem Recht Gebrauch machen würden, käme dies dem Suizid des jeweils angegriffenen Staates gleich. Was scheinbar direkt gegen die Idee unverlierbarer Menschenrechte spricht, ist bloß ein konsequenter Ausdruck ihrer Eigenart: Die Menschenrechte gelten „individuell“. Sie widersetzen sich kollektivistischen Zwängen. Und sie gelten eben auch im Krieg. Auf die fraglos beunruhigende Gefahr hin, dass sich der Souverän am Ende selbst abschafft.

Arnd Pollmann schreibt Bücher über Integrität und Unmoral, Menschenrechte und Menschenwürde. Er ist Professor für Ethik und Sozialphilosophie an der Alice-Salomon-Hochschule Berlin und Mitherausgeber des philosophischen Onlinemagazins Slippery Slopes.

Porträt von Arnd Pollmann
© privat
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