Seitdem Wolodymyr Selenskyj nicht mehr der bekannteste Comedian der Ukraine ist, sondern ihr Präsident, leidet die ukrainische Kabarettszene. Statt politischer Satire hat Alltagshumor Konjunktur, wie Inga Lizengevic beobachtet hat. Ihre Reportage ist am Ende dieser Weltzeit zu hören.
Zwei Jahre vorsichtiges Agieren
23:27 Minuten
Der Konflikt um die Ost-Ukraine war für Wolodymyr Selenskyj seit Beginn seiner Präsidentschaft vor zwei Jahren ein Hauptanliegen. Nun ist dieser aktueller denn je. Doch nicht nur diesbezüglich fällt die Zwischenbilanz seiner Regierung bescheiden aus.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj kam in der vergangenen Woche kurz entschlossen ins Donezbecken. Wo genau er sich dort aufhielt, blieb geheim. Bilder, die von seiner Pressestelle verbreitet wurden, zeigen erst eine Kolonne von Allradfahrzeugen, die sich durch matschige Wege wühlen. Später sieht man den Präsidenten, wie er mit kugelsicherer Weste durch Schützengräben stapft.
Der Kampf zwischen der ukrainischen Armee und den von Russland gesteuerten sogenannten Separatisten hat wieder erheblich an Schärfe zugenommen. In den vergangenen beiden Wochen starben neun ukrainische Soldaten. Mit tiefen Ringen unter den Augen sagte der Präsident in die Kamera seines Pressestabs:
"Wer heute in der Ukraine an der Macht ist, sollte jetzt hierherkommen, zumindest der Reihe nach sollten wir Spitzenpolitiker hier sein. Das ist für die Kämpfer wichtig, dass sie sehen: Die Regierenden verstecken sich nicht in ihren Büros. Diese Leute hier sind Helden. Sie entscheiden über unser Schicksal, indem sie unsere Grenzen verteidigen."
Für Wolodymyr Selenskyj sind die Artilleriegefechte und Scharfschützenangriffe ein herber Rückschlag. Im Wahlkampf vor zwei Jahren war er mit dem Versprechen angetreten, den Krieg zu beenden. Seine damaligen Formulierungen wurden ihm immer wieder vorgeworfen, denn sie klangen etwas naiv. Er müsse sich nur mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin an einen Tisch setzen, dann werde man eine Lösung finden, erklärte Selenskyj damals.
Kleine Fortschritte im Friedensprozess
Zum Treffen kam es im Dezember 2019, Selenskyj war gerade ein halbes Jahr im Amt. Der französische Präsident Emmanuel Macron lud nach Paris, auch Bundeskanzlerin Angela Merkel erschien – ein Vierer-Treffen im sogenannten Normandie-Format. Selenskyj sagte im Vorfeld:
"Schon das Treffen allein ist ein Sieg. Seit drei Jahren hat es keine direkten Gespräche mehr gegeben über einen Stopp des Kriegs. Ich will aus der Normandie das Gefühl mitnehmen, dass wirklich alle diesen Krieg beenden wollen."
Es folgten zumindest kleine Fortschritte im Friedensprozess. Mehrmals brachte Selenskyj einen Austausch von Gefangenen zustande. Auch rechnete er es sich an, die Kämpfe zeitweise beruhigt zu haben.
"Vom vergangenen Juli an hat die Waffenruhe mehr oder weniger gehalten. Das hat mich gefreut. Es gab viel weniger Verletzte und keine Todesopfer. Das hat sich mit dem Jahresbeginn geändert. Unsere Soldaten versuchen natürlich weiter, die Waffenruhe zu erhalten. Aber wenn sie beschossen werden, antworten sie, das ist verständlich. Wo ich jetzt gerade stehe, ist es besonders gefährlich. Der Okkupant hat hier vier Soldaten getötet."
Ukraine soll so rasch wie möglich in die NATO
Nicht nur Selenskyjs Rhetorik wird kämpferischer. In den vergangenen Wochen forderte er immer lautstärker, dass sein Land möglichst rasch in die Nato aufgenommen wird. Nur so könne die Ukraine den Krieg im Donezbecken wirklich beenden, sagte Selenskyj.
Für manche politischen Beobachter kam das überraschend. Tatsächlich aber habe die Ukraine unter Selenskyj ihre Verteidigungspolitik nur konsequent fortgesetzt, sagt Marianna Fachurdinowa, Verteidigungsexpertin bei der Kiewer Denkfabrik "Neues Europa".
"Unser Zentrum hat festgestellt, dass die Ukraine inzwischen 19 Prozent der in der Nato geltenden Standards umgesetzt hat. Das ist ein guter Wert, wenn man bedenkt, dass neue Nato-Staaten, die in den vergangenen zehn Jahren beigetreten sind, auf einem ähnlichen Niveau liegen. Von 300 Standards, die von der Ukraine schon erfüllt werden, ist ein Drittel erst unter Selenskyj hinzugekommen. Das Tempo hat also zugenommen."
Unter anderem hat das Parlament ein Gesetz verabschiedet, das Rüstungskäufe transparenter machen soll. Seit dem vergangenen Jahr hat die Ukraine so in der Nato einen neuen Status erworben. Sie gilt nun als "Partner mit erweiterten Möglichkeiten". So kann sie an allen Übungen des Verteidigungsbündnisses teilnehmen und Vertreter in alle Nato-Kommandozentralen entsenden.
Rüstungshilfe von den USA
Zudem haben die USA unter Selenskyj ihre Rüstungshilfe für die Ukraine verstärkt. Weitere Anti-Panzer-Raketen vom Typ Javelin wurden geliefert. In zwei Jahren wäre ein guter Zeitpunkt für die Ukraine, dem Membership Action Plan der Nato beizutreten, meint Marianna Fachurdinowa. Es wäre ein positiver Abschluss der ersten Amtszeit von Selenskyj.
"Die bisherige Annäherung an die Nato hat Russland nicht provoziert, wie manche meinen. Wir konnten das ja schon 2014 sehen, am Anfang des Kriegs. Kaum hatte die Ukraine Stärke gezeigt, kaum hatten die westlichen Partner ihre Unterstützung erklärt, hat Russland zurückgesteckt. Die Ukraine muss entschlossen sein, an ihrem Kurs hin zur Nato und zur Europäischen Union festzuhalten. Das ist das einzige Rezept, um Russland so weit wie möglich auf Abstand zu halten."
Schon seit Jahresbeginn, so die Kiewer Politologin Alexandra Reschmedilowa, trete Selenskyj den prorussischen Strömungen im Land schärfer entgegen. Auch wenn das bei einem Teil seiner Wählerinnen und Wähler nicht gut ankomme:
"Bis vor Kurzem war er vorsichtiger mit antirussischen Tönen, weil er viele Anhänger im Süden und im Osten hatte, auch noch in der zentralen Ukraine, wo die Menschen Russland näherstehen. Jetzt fischt er auch unter den Wählern seiner nach Westen orientierten Konkurrenten. Insgesamt haben sich seine Umfragewerte zuletzt etwas verbessert. Wohl auch durch die Konfrontation mit Wiktor Medwedtschuk."
Wiktor Medwedtschuk ist Betreiber mehrerer TV-Sender, ein Oligarch, ukrainischer Parlamentsabgeordneter und – das Wichtigste: Er ist Duzfreund des russischen Präsidenten Wladimir Putin.
Selenskyj bekämpft Putin-Freund Medwedtschuk
Zuerst hat Präsident Selenskyj verfügt, dass die Fernsehkanäle des Oligarchen nicht mehr senden durften. Diese hatten den ukrainischen Präsidenten mächtig unter Druck gesetzt. Unter anderem durch ihre Werbung für den russischen Coronaimpfstoff Sputnik V, den Selenskyj nicht in die Ukraine lässt. Dann ließ Selenskyj auch die Firmenbeteiligungen von Medwedtschuk und seinen Partnern einfrieren. Der Putin-Freund hat nicht einmal mehr Zugang zu seinen Flugzeugen.
Medwedtschuks prorussische Fraktion im Parlament protestierte lautstark. Am lautesten ihr Abgeordneter Wadim Rabinowytsch:
"Wir leiten ein Amtsenthebungsverfahren gegen Präsident Selenskyj ein, der die ukrainischen Wähler mit Füßen tritt. Der Faschismus hat heute in der Ukraine eine neue Farbe bekommen – die grüne Farbe der Präsidentenpartei. Ihr seid ein faschistischer Teufel."
Das Amtsenthebungsverfahren gibt es bis heute nicht – die prorussische Partei Oppositionsplattform würde dafür im Parlament keine Mehrheit bekommen.
Schwere Wirtschaftskrise durch Pandemie
Umfragen zeigen, dass Selenskyj bei einer Wahl heute mit rund 25 Prozent der Stimmen rechnen könnte, etwas weniger als im ersten Wahlgang vor fünf Jahren. In einer Stichwahl würde er alle möglichen Gegenkandidaten besiegen. Das sei beachtenswert, weil das Land wegen der Corona-Pandemie in einer schweren Wirtschaftskrise stecke, sagt Alexandra Reschmedilowa. Für die ohnehin arme ukrainische Gesellschaft ein schwerer Schlag.
"Die Situation ist in der Tat sehr schwierig, weil wir nicht wissen, wann wir genug Impfstoff bekommen. Das ist auch ein großer psychologischer Druck für die Menschen. Ich denke, dass Selenskyj im nächsten Monat die Regierung umbauen wird, um der Unzufriedenheit ein Ventil zu geben."
Die Ukraine bekommt zwar Impfstoff aus dem COVAX-Programm der Weltgesundheitsorganisation. Aber dieser reicht nur für einen Bruchteil der Bevölkerung. Vor einer Woche erklärte Selenskyj, er habe die Zusage der Firma Pfizer, dass sie seinem Land zehn Millionen Dosen verkaufe. Wann genau, sagte Selenskyj aber nicht. Insgesamt bewerteten die Ukrainer Selenskyjs Leistung, nicht nur in der Coronakrise, durchschnittlich, so Reschmedilowa.
"In einer Schulklasse gibt es den Primus und dann gibt es diejenigen, die gerade so durchkommen. So einer ist Selenskyj. Er macht nichts Extremes, was viele Menschen gegen ihn aufbringen könnte. Ich würde nicht sagen, dass er besonders wendig ist, eher besonders vorsichtig."
Man merke dem 43-Jährigen immer noch an, dass er als Quereinsteiger in die Politik kam.
"Mir scheint, er versteht jetzt, was er sich da aufgebürdet hat. Er kennt sich besser aus und er versucht, selbstständig zu handeln."
"Anfänglicher Schwung ging schnell verloren"
So hat sich Selenskyj von seinem ehemaligen Förderer Ihor Kolomojskyj distanziert. Ihm gehört der Fernsehkanal, in dem Selenskyj als Kabarettist auftrat. Mit der Wahl seines Schützlings hoffte der Oligarch, seine ehemalige Bank zurückzubekommen. Sie war unter Selenskyjs Vorgänger Petro Poroschenko verstaatlicht worden. Doch Selenskyj stellte sich nicht auf seine Seite. Er boxte ein Gesetz durchs Parlament, das die Pläne Kolomojskyjs durchkreuzte. Vertreter von Nicht-Regierungsorganisationen, die Korruption aufdecken, begrüßten das. So Tetjana Schewtschuk, Juristin beim Zentrum für Korruptionsbekämpfung.
"In seinen ersten Monaten im Amt hat Selenskyj die Hoffnung geweckt, dass er die Korruption bekämpfen will. Er hat unter anderem dafür gesorgt, dass der Antikorruptionsgerichtshof seine Arbeit aufnehmen konnte. Aber leider ging dieser Schwung schnell verloren. Das sieht man an den Versuchen von Selenskyj, den Chef der Antikorruptionsbehörde NABU zu entlassen. Er will die Behörde unter seine Kontrolle bringen. Das ist ihm nur wegen des großen internationalen Drucks bisher nicht gelungen, darunter des Internationalen Währungsfonds."
Tetjana Schewtschuk kann dazu eine ganze Liste von Versäumnissen aufzählen. Sie ergeben das Bild, dass sich Selenskyj mit den Oligarchen im Land arrangiert hat. Diese sind auch deshalb so reich, weil sie sich mit ihren Unternehmen nie einem fairen Wettbewerb stellen müssen, sondern für sie günstige Gesetze und Gerichtsentscheidungen einfach kaufen können.
Es gebe zwar keine Hinweise darauf, dass sich Selenskyj persönlich bereichert, so die Expertin. Aber bei Korruptionsvorwürfen in seiner Umgebung schaue er systematisch weg.
"Am deutlichsten wurde das beim Fall von Oleg Tatarow, dem stellvertretenden Leiter der Präsidentenkanzlei. Es besteht der Verdacht, dass er früher, als er noch freier Anwalt war, an der Übergabe von Schmiergeld beteiligt war. Dabei ging es um den Bau von Wohnungen für Soldaten. Die Präsidentenkanzlei und die Generalstaatsanwältin habe alles getan, um das unter den Teppich zu kehren."
Und bei einem seiner Vorzeigeprojekte, einem großen Straßenbauprogramm, gebe es massive und belegte Korruptionsvorwürfe, so Tetjana Schewtschuk, von denen der Präsident nichts wissen wolle.
Bisher keine Reform der korrupten Justiz
Auch eine Reform des korrupten Gerichtswesens lässt bisher auf sich warten. Und genau das sei Selenskyj im vergangenen Herbst auf die Füße gefallen, meinen Experten. Führende Verfassungsrichter begehrten auf und wollten Meilensteine der Korruptionsbekämpfung wieder entfernen. So urteilten sie, die Vermögenserklärungen, die Politiker und hohe Beamte abgeben müssen, seien verfassungswidrig. Dabei handelten sie in eigener Sache: Gegen Verfassungsrichter selbst laufen Verfahren wegen Korruptionsvorwürfen.
Vor dem Gerichtsgebäude versammelten sich spontan Hunderte aufgebrachte Demonstranten. Und Selenskyj, der um die Unterstützung der westlichen Partner fürchten musste, reagierte alarmiert. Zu den Abgeordneten seiner Partei Diener des Volkes sagte er:
"Das merkwürdige Verhalten der Verfassungsrichter hat unser Land an den Rand einer Katastrophe geführt. Entweder unser Staat, verstanden als System von transparenten Regeln, hört auf zu existieren. Oder wir stellen uns dem entgegen und sagen Nein. Uns alle erwartet die entscheidende Schlacht gegen alles, was verschwinden muss."
Große Worte, und für einen Moment schien es, als würde Selenskyj auch die Zivilgesellschaft wieder in den Korruptionskampf einbeziehen. Das Parlament verabschiedete Gesetze, die den Schaden, den das Verfassungsgericht angerichtet hatte, weitgehend reparierten.
In den vergangenen Wochen sorgte Selenskyj dann doch wieder für Kopfschütteln bei denen, die in der Ukraine einen Rechtsstaat aufbauen wollen. Per Dekret entließ er de facto zwei der Verfassungsrichter. Damit verstieß er nach Ansicht fast aller maßgeblichen Juristen selbst gegen die Verfassung. Korruptionsexpertin Tetjana Schewtschuk meint, der Präsident müsse sich endlich entscheiden, auf welcher Seite er stehe.
"Der neue US-Präsident Joe Biden hat es in seinem ersten Telefongespräch mit Selenskyj deutlich gemacht, dass die USA Reformen erwarten. Das ist mit der Zuspitzung im Donezbecken, mit der Kriegsgefahr, etwas in den Hintergrund getreten. Aber langfristig wird die Unterstützung der westlichen Partner davon abhängen. Früher oder später muss Selenskyj auf die Frage antworten: Wo bleiben die Reformen?"