Ukrainisch und Russisch

Ein Sprachkonflikt – oder doch nicht?

Eine Illustration zeigt zwei geballte Fäuste, die eine ukrainische und eine russische Flagge gegeneinander halten.
Russland hat die Ukraine angegriffen: Aber eine generelle Abneigung von Ukrainern gegen die russische Sprache hat Stanislaw Strasburger in persönlichen Begegnungen nicht festgestellt. © imago / fStop Images / Malte Mueller
Ein Einwurf von Stanislaw Strasburger · 01.06.2022
Seit dem Angriff auf die Ukraine ist vieles, was mit Russland zu tun hat, diskreditiert. Aber wird etwa Russisch von den Ukrainern selbst wirklich als Sprache des Feindes wahrgenommen? Der Schriftsteller Stanislaw Strasburger hat es anders erlebt.
An einem sonnigen Wochenendtag findet in Berlin ein Vernetzungstreffen statt. Literaturschaffende aus der Ukraine, die seit wenigen Wochen in der Stadt leben, sollen die Gelegenheit bekommen, ihre Berliner Kolleg:innen kennenzulernen. Die Moderatorin ist zweisprachig, Deutsch und Russisch.
Doch bevor es eigentlich losgeht, fängt sie mit einer Entschuldigung an. Ihre Kenntnisse des Ukrainischen seien leider mangelhaft. Ob es jemanden unter den ukrainischen Gästen gebe, der kein Russisch verstehe? Und wäre es überhaupt okay, wenn nur Deutsch und eben Russisch gesprochen würde?

Ukrainische Gäste haben nichts gegen Russisch

Die ukrainischen Gäste, zumeist junge Leute, nicken leicht desinteressiert. Doch unter den Berliner Teilnehmer:innen regt sich Unbehagen. Russisch, die Sprache des Feindes?! Über eine halbe Stunde lang tobt eine heftige Auseinandersetzung.
Die Einigung sieht schließlich so aus: Von der Bühne wird nun jedes Wort zwischen Deutsch, Russisch und Ukrainisch hin und her übersetzt. Letzteres dank einer spontan hinzugeholten Dolmetscherin. Auf eine Vorstellung der Veranstalter:innen folgen zwei Reden, und siehe da, die Zeit für das geplante Kennenlernen ist schon so gut wie vorbei.
Einige Zeit später spreche ich mit einer Jugendbuchautorin aus Kiew, die seit Kurzem in Berlin wohnt. Sie ist in der Sprachenfrage entspannt. Seit 2014, dem Jahr des Majdans, der Krim-Annexion und des Kriegsausbruches im Donbass, verlangten die Verlage nach Manuskripten in Ukrainisch, erzählt sie.

Jede Sprachkenntnis eine Bereicherung

Auf Lesungen in Schulen gebe es zwei unterschiedliche Szenarien: Der offizielle Teil finde immer auf Ukrainisch statt. Fragerunde und Einzelgespräche verliefen dann so, wie es für die Sprecher natürlicher wirkt – im Osten des Landes tendenziell auf Russisch, im Westen auf Ukrainisch.
Dass ein neues Land seine eigene Sprache promotet, findet sie durchaus verständlich. Doch wer welche Sprache zu Hause spricht, bleibe dann seine Privatsache. Schließlich sei jede Sprachkenntnis eine Bereicherung, und selbst in Kiew spreche die Mehrheit der Bevölkerung Russisch.
Hieß es nicht immer, in der Ukraine gebe es einen Sprachkonflikt und das Russische werde zurückgedrängt? Haben wir in Deutschland das Ausmaß dieses Konflikts und der Politisierung von Sprache in der Ukraine überschätzt?

Vorsicht vor falscher Befangenheit

Uns allen ist klar: Mit dem Krieg kann sich das ändern und mit der entspannten Haltung der Ukrainer:innen gegenüber dem Russischen könnte es irgendwann vorbei sein. Doch eine falsche Befangenheit vermeintlich Verbündeter kann die Auswirkungen des Krieges letztlich im Sinne der Angreifer noch gravierender machen.
Denn viele der kürzlich Geflüchteten sind ja gerade deshalb hierhergekommen, weil sie nicht in einer polarisierten Welt voller Ausgrenzung und Re-Nationalisierung leben möchten. Wir sollten sie nicht in eine Ecke schieben, in der sie nicht stehen wollen. So wird auch für das Kennenlernen mehr Zeit bleiben.

Stanislaw Strasburger ist Schriftsteller, Publizist und Kulturmanager. Seine Schwerpunkte sind Erinnerung und Mobilität, er sucht nach der EUtopie und schätzt die Achtsamkeit. Sein aktueller Roman “Der Geschichtenhändler“ erschien 2018 auf Deutsch (2009 auf Polnisch und 2014 auf Arabisch). Der Autor wurde in Warschau geboren und lebt abwechselnd in Berlin, Warschau und diversen mediterranen Städten. Zudem ist er Ratsmitglied des Vereins „Humanismo Solidario“.

Stan Strasburger posiert für ein Foto.
© Simone Falk
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