Ukrainisch-russische Fußballgeschichte

Verdrängte Vergangenheit

06:00 Minuten
Trainer Walerij Lobanowski (2. von links) mit seinem UdSSR-Team beim Training während der Fußball-Europameisterschaft 1988 in Deutschland, hier in Hannover
Der Ukrainer Walerij Lobanowski (2. von links) trainierte die UdSSR-Auswahl bei der Fußball-EM 1988 in Deutschland. © Imago / Rust Euro
Von Ronny Blaschke |
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Anfang Juni kann sich die Ukraine noch in zwei Play-off-Spielen für die Fußball-WM in Katar qualifizieren – und möchte damit auch ein Zeichen gegen Russland setzen. Dabei verbindet beide Länder im Fußball eine gemeinsame und erfolgreiche Geschichte.
Kiew lag am Rande der Sowjetunion. Nicht nur geografisch, sondern im übertragenen Sinne auch in Politik, Kultur und Wissenschaft. Ganz anders im Fußball. Zwischen 1961 und 1990 gewann Dynamo Kiew dreizehnmal die sowjetische Meisterschaft, zweimal sogar den Europapokal der Pokalsieger.

Viele ukrainische Spieler im sowjetischen Team

Lange Zeit bildeten ukrainische Spieler das Fundament der sowjetischen Nationalmannschaft. 1988 erreichte die UdSSR das Finale der Europameisterschaft. Von den 20 Spielern stammten zehn von Dynamo Kiew, das galt auch für den Nationaltrainer Walerij Lobanowski.
„Deswegen gab es im ukrainischen Fußball und bei den ukrainischen Fußballeliten sehr viel Hoffnung", erklärt die Historikerin Kateryna Chernii: "Wenn wir so gut im sowjetischen Fußball sind, dann werden wir noch besser, wenn wir unabhängig werden."
Kateryna Chernii forscht am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam. Einer ihrer Schwerpunkte: die Transformation des ukrainischen Fußballs Anfang der Neunzigerjahre.
Damals erhielt von den Nachfolgestaaten der Sowjetunion nur das russische Nationalteam die Erlaubnis, an der Qualifikation für die WM 1994 teilzunehmen. Die neue ukrainische Mannschaft durfte erst in der Qualifikation für die EM 1996 einsteigen.

Im Fußball war die Ukraine die führende Republik. Sie fanden das echt ungerecht. Deshalb gab es große Diskussionen. Sie haben ständig Briefe an UEFA und FIFA geschrieben. Sie trafen sich auch mit FIFA- und UEFA-Repräsentanten. Aber sie konnten das nicht ändern.

Kateryna Chernii, Historikerin

Vor der WM 1994 stand aber noch die EM 1992 an. Souverän hatte sich die Sowjetunion für das Turnier in Schweden qualifiziert. Der Staat hörte allerdings auf zu existieren. Und so spielte bei der EM - sozusagen als Übergang - die Mannschaft der GUS, der „Gemeinschaft Unabhängiger Staaten“.
Auch die Auswahl der GUS wurde von ukrainischen Spielern geprägt, von Oleh Kusnezow, Andrei Kantschelskis oder Sergei Juran. Inzwischen aber spielten sie nicht mehr für Dynamo Kiew, sondern für die Glasgow Rangers, Manchester United oder Benfica Lissabon.
Szene aus dem Spiel Deutschland gegen die GUS in Norrköping bei der Fußball-EM 1992 in Schweden
Das GUS-Team spielte bei der Fußball-EM 1992 auch gegen Deutschland.© Imago / Sportfoto Rudel
"Diese Spieler mussten sich dann entscheiden, für wen sie spielen", erklärt Kateryna Chernii. "Für die ukrainische, russische oder georgische Mannschaft? In der Sowjetunion gab es natürlich viele Leute aus gemischten Ehen, sie waren Halbukrainer, Halblitauer, Halbrussen. Hinzu kam noch ein finanzieller Aspekt: Die ukrainische Mannschaft damals war fast pleite. Das Geld, das es noch gab, hat der russische Verband übernommen. Der ukrainische Verband konnte damals keine Flugtickets für die Fußballspieler bezahlen. Sie hatten wirklich gar nichts."
Die Aussicht auf höhere Prämien führte dazu, dass einige sowjetisch-ukrainische Spieler die russische Staatsbürgerschaft annahmen. Zum Beispiel Sergei Juran, aufgewachsen in Luhansk, im Osten der Ukraine. Andere Spieler, die auf das Ende ihrer Karriere zugingen, lehnten das Angebot ab. Zum Beispiel Oleksij Mychajlytschenko, Kapitän der UdSSR bei der EM 1988. In der Ukraine wurden diese Entscheidungen kontrovers diskutiert.
„Oleksij Mychajlytschenko zum Beispiel wurde als guter ukrainischer Bürger bezeichnet", erzählt Kateryna Chernii. "Sergei Juran hingegen wurde kritisiert. Er galt als ein Ukrainer, der sich selbst verloren hat. Es war die Zeit, als viele in der Gesellschaft ehrlich sein mussten: Wer sind wir? Wo werden wir leben? Wie werden wir leben?“

Ukraine war 2006 erstmals bei einer WM

Die ukrainische Nationalmannschaft brauchte einige Jahre, um sich im Spitzenfeld zu etablieren. 2006 nahm sie in Deutschland erstmals an einer WM teil. Ihr Höhepunkt folgte 2012, als die Ukraine gemeinsam mit Polen die EM austrug. In einer Ausstellung wurden damals berühmte ukrainische Spieler wie Oleg Blochin im Trikot von Dynamo Kiew gezeigt, nicht aber im Trikot der UdSSR, erinnert Thomas Urban, langjähriger Korrespondent der „Süddeutschen Zeitung“:
„Die offizielle Geschichtspolitik der Ukraine heute beruht ja auf der Distanzierung von der Sowjetunion - und dadurch von Russland. Weil die Sowjetunion als russisch dominiert wahrgenommen wird, was ja auch stimmte.“
Die komplizierte Erinnerungspolitik wird an Walerij Lobanowski deutlich. Viele Ukrainer verbinden mit ihm die Erfolge von Dynamo Kiew. Seine Arbeit als sowjetischer Nationaltrainer wird verdrängt. Bei der Eröffnung eines Lobanowski-Denkmals 2003 gehörte zu den Rednern aber auch ein Vertreter des russischen Fußballverbandes. Heute wäre das undenkbar.

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