Ukrainische EM im Abseits?

Von Gesine Dornblüth |
Julia Timoschenko wurde im Herbst 2011 zu sieben Jahren Haft verurteilt. Ist sie eine korrupte Frau mit Blut an den Händen oder eine Märtyrerin, die die Ukraine retten kann? An Julia Timoschenko scheiden sich die Geister, gerade vor dem Beginn der Fußball-EM in Polen und der Ukraine.
Ein Frühsommertag im ostukrainischen Charkiw. Etwa zweihundert Menschen stehen vor dem Gerichtsgebäude, schwenken Fahnen. Die meisten sind weiß mit einem roten Herzen darauf. Es sind die Fahnen des Parteienbündnisses "Block Julia Timoschenko", kurz Bjut.

Im Gerichtssaal wird über Julia Timoschenko verhandelt, die wohl berühmteste Gefangene der Ukraine. Im vergangenen Jahr verurteilte ein Kiewer Gericht die ehemalige Premierministerin zu sieben Jahren Haft - wegen angeblichen Amtsmissbrauchs.

Das Verfahren in Charkiw ist bereits das zweite gegen die Politikerin. Die Staatsanwaltschaft wirft ihr Steuerhinterziehung und Veruntreuung vor. Es geht um Millionen. Im schlimmsten Fall drohen Timoschenko weitere zwölf Jahre Gefängnis. Auf einer Bank sitzt Larisa Wladimirowna. Sie hat den Stab mit der Parteifahne vor sich aufgestellt. Die Rentnerin will einen Moment ausruhen:

"Die Partei hat mich angerufen, damit ich herkomme. Julia tut mir leid. Dass ein Mensch so leiden muss - wegen nichts."

Julia Timoschenko hat sich im Gefängnis ein Rückenleiden zugezogen. Angeblich ist sie in der Haft geschlagen worden. Das sagen ihre Anwälte - und präsentierten Fotos der Gefangenen mit blauen Flecken an Arm und Bauch. Die Gefängnisleitung weist die Vorwürfe zurück. Derzeit wird Timoschenko in einem zivilen Krankenhaus in Charkiw von einer deutschen Ärztin behandelt. Ins Gericht kommt sie an diesem Tag nicht. Sie ist wegen ihrer Krankheit verhandlungsunfähig.

Die Menge skandiert jetzt "Bande, hau ab". Mit "Bande" ist die Regierung unter Staatspräsident Wiktor Janukowitsch gemeint. Larisa Wladimirowna stößt die Fahnenstange auf den Boden:

"Wie sie sich benehmen. Wie sie alles kaputtmachen. Die historischen Denkmäler. Die kaufen einfach alles auf. Ist das etwa gerecht? Nein. Julia soll geklaut haben, und sie nicht ..."

Aus Protest gegen die Verurteilung Julia Timoschenkos wollen diverse europäische Politiker die Fußball-Europameisterschaft in der Ukraine boykottieren. Sie werfen Präsident Janukowitsch vor, die Justiz für seine politischen Zwecke zu instrumentalisieren, das Strafrecht zu missbrauchen, um sich seiner politischen Gegnerin zu entledigen. Die Rentnerin Larisa Wladimirowna sieht das auch so:

"Die werden die Verhandlung heute vertagen. Die werden die Sache verzögern, solange es irgend geht. Damit Julia nicht an den Wahlen teilnehmen kann. Darum geht es ihnen."

Im Oktober wählt die Ukraine ein neues Parlament. Derzeit stellt die Partei der Regionen von Präsident Wiktor Janukowitsch die Mehrheit. Doch ihr Rückhalt in der Bevölkerung sinkt. Und der Druck auf die Regierung steigt, denn erstmals in der jüngeren Geschichte der Ukraine will sich die zerstrittene Opposition zusammenschließen und bei der Wahl mit gemeinsamen Kandidaten antreten. Die Partei von Julia Timoschenko ist dabei die führende Kraft. Wer ist diese Frau, für die sich europäische Politiker, deutsche Ärzte, sogar Fußballer einsetzen? Ihr kometenhafter Aufstieg als Politikerin begann 1996 in der ukrainischen Provinz.

Bobrynets, eine Kleinstadt gut dreihundert Kilometer südlich von Kiew. Zweistöckige Häuser säumen die Leninstraße. Bäume spenden Schatten. Das Stadtzentrum ist wie leergefegt.

Eine Frau betritt einen unscheinbaren Hauseingang. Nadjeschda Rybatschuk ist die Bezirksvorsitzende der Vaterlands-Partei von Julia Timoschenko. Eine kräftige Frau um die 50. Im zweiten Stock ist ein Laden mit Bestattungsbedarf. Die Blumenkränze sind aus Plastik. Das Parteibüro befindet sich hinter der Nachbartür.
Überall hängen die weißen Fahnen mit dem roten Herz, und überall hängt sie: Lächelnd, dezent geschminkt, mit strahlenden braunen Augen und dem unverkennbaren blonden geflochtenen Haarkranz: Julia Timoschenko, mit Vatersnamen Vladimirovna. Sechzehn Jahre ist es her, dass sie erstmals in Bobrynets auftauchte, um für das Parlament zu kandidieren. Es war eine Nachwahl, der damalige Abgeordnete aus Bobrynets war in die Regierung berufen worden. Timoschenko bewarb sich um die Nachfolge.

Der Gegenkandidat war ein alter Mann, um die siebzig. Sie erhielt mehr als 92 Prozent der Stimmen. Nadjeschda Rybatschuk, die Parteivorsitzende, hat ein paar von denen zusammengerufen, die damals dabei waren. Alexander Schitschenko arbeitete 1996 in der Stadtverwaltung von Bobrynets. Heute leitet er einen Landwirtschaftsbetrieb:

"Julia Wladimirowna kam in Begleitung einer gewichtigen Delegation mit ranghohen Politikern aus Dnjepropetrowsk. Was uns beeindruckt hat, war: Sie war jung. Sie war damals 36 Jahre alt. Ihr Vorgänger war schon über 60. Sie hat uns beeindruckt als junge, sympathische, belesene und kluge Frau. Sie konnte damals kein Wort Ukrainisch, sie sprach nur Russisch. Auch das hat uns beeindruckt, denn ihr Vorgänger sprach nur unsere Sprache, ukrainisch. Ich habe ihr damals, das weiß ich noch, persönlich Blumen überreicht, was kann ich mehr sagen ..."

Er lächelt. Timoschenko war damals Unternehmerin. In ihrer Heimatstadt Dnjepropetrowsk, etwa vier Autostunden von Bobrynets entfernt, hatte sie zunächst mit einem Videoverleih Geld verdient. Später importierte sie Benzin und Gas aus Russland - und erwarb sich den Spitznamen "Gasprinzessin". Böse Zungen sagen, Timoschenko habe sich den Wahlkreis in Bobrynets gekauft. Schitschenko schüttelt den Kopf:

"Wir haben sie damals nicht gewählt, weil sie etwas finanzierte. Das hat sie vor der Wahl gar nicht getan. Sondern wir haben uns einfach in sie verliebt. Nachdem sie gewählt war, hat sie uns allerdings sehr geholfen. 1996/97 waren die schwierigsten Jahre in der Geschichte der Ukraine. Damals stürzte unsere Währung ab, die Beamten erhielten sechs Monate kein Gehalt, die Rentner keine Rente. Die Menschen brauchten Lebensmittel und Medikamente.

Julia Wladimirowna hat einen Stab gebildet und Lebensmittel und Geld verteilt. Und sie hat Gasröhren besorgt. Wir hatten damals gerade begonnen, die Stadt an die Gasversorgung anzuschließen. 1998 konnten wir dank ihrer Hilfe 21 Kilometer Gasleitungen legen."

Eine Frau rutscht auf ihrem Stuhl hin und her. Sie möchte unbedingt auch etwas sagen. Olga Scherbena war 1996 Stationsschwester im Krankenhaus von Bobrynets:

"Julia Wladimirowna hat dafür gesorgt, dass es in unserem Krankenhaus keine Stromausfälle mehr gab. Wir hatten damals nur stundenweise Strom. Für ein Krankenhaus ist das eine Katastrophe. Bei Operationen oder auf der Neugeborenenstation braucht man ständig Strom. Und damit hat Julia Wladimirowna uns alle gekauft. Und, weil sie eine Frau war, eine schöne Frau. Wir wollten eine Frau an der Staatsspitze."

Olga Scherbena nimmt ein Foto aus einem Umschlag. Es zeigt eine junge Frau mit kastanienbraunem kurzen Haar und einem Neugeborenen im Arm: Julia Timoschenko in der Säuglingsabteilung von Bobrynets. Dann ein anderes Foto: Dieselbe Frau, derselbe Junge neun Jahre später. Timoschenko bereits mit Haarkranz. Sie hatte darum gebeten, den Säugling von damals noch einmal zu sehen:

"Zu dem Treffen brachte der Junge Bilder mit. Und sie sagte: Wie schön du malen kannst, dafür schenke ich dir Stifte und Papier. Aber er guckte sie nur an und meinte: Ich möchte einen Computer. Julia Wladimirowna hat das sehr bekümmert. Aber dann haben ihre Begleiter etwas organisiert, und nach fünf Minuten hatte er einen Computer."

Wer wie Julia Timoschenko in den 90er-Jahren in der ehemaligen Sowjetunion zu Reichtum kam, der schaffte das in der Regel mit halblegalen Methoden. Ehemalige Sowjetfunktionäre, Kombinatsleiter, Komsomolvorsitzende nutzten ihre Beziehungen aus und eigneten sich Staatsbesitz an. Die Grenze zwischen legal und illegal war fließend. So brachten es die Oligarchen zu großem Reichtum. Viele von ihnen gingen in die Politik, denn ein Sitz im Parlament brachte Immunität und Straffreiheit. Gut möglich, dass das auch der Anlass für Timoschenko war, in Bobrynets zu kandidieren. Nadeschda Rybatschuk glaubt das nicht:

"Sie hat es genau richtig gemacht. Ich hätte auch so gehandelt: Erst mal reich werden, und dann weitersehen. Sie hat ihren Reichtum nie für sich behalten, sondern mit den Armen geteilt. Sie hat Kohle ausgefahren in die Schulen, damit die Räume beheizt werden. Sie hat 18 Schulen finanziert, als die geschlossen werden sollten."

So nahm die politische Karriere Timoschenkos ihren Lauf. Sie wurde stellvertretende Ministerpräsidentin und nach der Orangen Revolution 2004 Regierungschefin. Dann kam die Partei der Regionen von Wiktor Janukowitsch wieder an die Macht. Und Timoschenkos Parteimitglieder wechselten in Scharen das Lager. Sogar Parlamentsabgeordnete liefen zu Janukowitsch über. Eine herbe Niederlage. Doch nun scheint der Block Julia Timoschenko wieder im Aufwind, zumindest in Bobrynets: allein in den vergangenen Wochen hat er hier siebzig neue Parteimitglieder gewonnen. Doch das ist nicht überall in der Ukraine so.

Nur zwanzig Kilometer weiter. Das Dorf Swerdlowa. An einem Tümpel weiden Kühe. Es gehört zum Wahlkreis Bobrynets. In Swerdlowa steht eine der Schulen, die Timoschenko Ende der 90er-Jahre mit Kohlen versorgte.

Vor einem Haus sitzen vier Leute auf einer Bank, im Schatten unter einem Kirschbaum. Zwischen ihnen steht ein Teller mit Speck, Gurken und Tomaten. Oljas nackte Füße stecken in Plastikschlappen.

Frau eins: "Ich war damals auch für sie. Aber die Situation hat sich geändert."

Frau zwei: "Heute glaube ich an gar nichts mehr. Mir scheint, das ist alles PR und Lüge. Ich bin mir nicht mal sicher, dass sie überhaupt im Gefängnis sitzt. Wir sind hier das Ende der Welt. Und wir werden für dumm verkauft. Im Fernsehen zeigen sie jetzt dauernd Timoschenko und ihre Tochter. Und es heißt, sie hätte Einkünfte von sieben Milliarden Dollar. Sieben Milliarden Dollar! Wir bekommen hier Kopeken. Also, ich glaube gar nichts mehr."

Timoschenkos Problem ist: Viele Ukrainer haben das Vertrauen in sie verloren - in sie, in Janukowitsch und in die Politik insgesamt. Sie sorgen sich nicht um das Schicksal Timoschenkos, sondern um Arbeit, Lohn, Bildung. Darauf setzt die Regierung der Ukraine.

Kiew, der Michaelsplatz im Stadtzentrum. Die goldenen Kuppeln des angrenzenden Klosters glänzen in der Sonne. Daneben steht das Außenministerium der Ukraine. Dessen Sprecher, Oleg Woloschin, bekommt vor der Fußball-Europameisterschaft besonders viele Anfragen in Sachen Julia Timoschenko. Er redet lieber über Meinungsfreiheit:

"Julia Timoschenko ist ein Pop-Idol. Aber die Ukraine ist mehr als Julia Timoschenko. Sie ist eine maßlos überhöhte Heldin, und besonders die deutschen Politiker haben sie ins Herz geschlossen. Hören Sie sich doch lieber mal in der Bevölkerung um. Alle werden Ihnen sagen, dass sie frei ihre Meinung äußern können."

Die Zentrale der Vaterlandspartei in Kiew. Grigori Nemyria berät Timoschenko in außenpolitischen Fragen. Gerade ruft ihre Tochter an. Jevgenia Timoschenko ist zu Besuch im Krankenhaus in Charkiw. Nemyria informiert sie über die nächsten Treffen mit Politikern aus Brüssel. Europäische Politiker geben sich in der Ukraine die Klinke in die Hand. Mal sitzt die litauische Präsidentin an Timoschenkos Krankenbett in Charkiw, mal schaut der Vizepräsident des Europäischen Parlaments nach ihr. Nemyria hat nur wenig Zeit, in wenigen Minuten kommt wieder ein Besucher:

"Kein einziger Politiker außer Janukowitsch glaubt, dass Timoschenko ein Verbrechen begangen hat. Es besteht breite Übereinstimmung darin, dass sie aufgrund politisch motivierter Urteile im Gefängnis sitzt, die darauf zielen, die wichtigste politische Gegnerin von Präsident Janukowitsch wenige Monate vor der Parlamentswahl Ende Oktober aus dem Verkehr zu ziehen. Aber sie hat es geschafft, jene, die an ihrer Stärke als Politikerin gezweifelt haben, zu überzeugen: Sogar im Gefängnis bleibt sie die Oppositionsführerin."
Julia Timoschenkos Unterstützer vor dem Gericht in Charkiw
Julia Timoschenkos Unterstützer vor dem Gericht in Charkiw© Gesine Dornblüth
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