Ukrainisches Staatsgebiet

Demokratie braucht ein Territorium

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Ukrainische Soldaten feuern an der südlichen Frontlinie der Ukraine am 15. September 2022. Zwei Soldaten gehen in Deckung und halten sich die Ohren zu. Eine Rauchsäule steigt auf.
Ukrainische Soldaten an der südlichen Frontlinie, am 15. September 2022. © AFP / Ihor Tkachov
Von Eva Marlene Hausteiner · 18.09.2022
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Um weitere Opfer zu vermeiden, müsse die Ukraine auf Territorium verzichten, fordern manche. Die Ukrainer selbst halten davon nichts. Sie haben damit Recht: Ein intaktes Staatsgebiet ist für eine Demokratie unverzichtbar, kommentiert Eva Hausteiner.
Für die eigene Nation Opfer bringen, diese Idee wirkt antiquiert, ist aber hochaktuell. Eine neue Umfrage britischer Forschender zeigt, dass vier Fünftel der ukrainischen Bevölkerung zu keinerlei Zugeständnissen gegenüber Russland bereit sind – weder, was ihre politische Souveränität noch was ihr Territorium angeht. Die Ukrainer*innen wollen ihr Land nicht hergeben, um keinen Preis.

Unfassbare Opferbereitschaft

Die Daten bringen Klarheit in eine zirkuläre Debatte. Sollte es angesichts des übermächtigen Gegners nicht schon als Sieg gelten, wenn überhaupt ein souveräner, vielleicht eben kleinerer ukrainischer Staat fortbesteht – gerade wenn angeblich Bevölkerungsteile im Osten eher, so eine übliche Wendung, "pro-russisch" eingestellt sind? Wir wissen nun: Die Opferbereitschaft der großen Mehrheit der Ukrainer*innen, russisch- und ukrainischsprachig, ist auch nach einem halben Jahr Krieg immer noch unfassbar groß.
Dahinter steht aber eine weitere, mit empirischen Methoden kaum zu beantwortende Frage: Weshalb geht es auch in aktuellen Kriegen so sehr um die Eroberung von Territorium, und weshalb ist die Unverletztheit des ukrainischen Gebietes für die Bevölkerung offenbar unverzichtbar?

Recht auf räumliche Stabilität

In Demokratien steht dahinter ein gehaltvoller Zusammenhang: Solange Staatsbürgerschaft in irgendeiner Weise an den Ort des Lebensmittelpunkts gebunden ist, gehen mit der Verortung bestimmte Pflichten, vor allem aber auch Rechte einher – etwa das Recht auf politische Beteiligung. Mehr noch: Die Demokratietheoretikerin Margaret Moore etwa beharrt auf einem Recht auf territoriale Zugehörigkeit, auf räumliche Verwurzelung, auf "Stabilität von Ort und Umfeld".
Eva Marlene Hausteiner
In der gegenwärtigen Staatenwelt sind elementare Bürgerrechte direkt an das jeweilige Territorium geknüpft, so die politische Philosophin Eva Marlene Hausteiner.© David Elmes
Es geht hier also demokratietheoretisch nicht um Eigenschaften des Gebiets selbst – etwa eine nationalistische Überhöhung des heimatlichen Bodens oder den geopolitischen Blick auf strategische Ressourcen –, sondern um gedeihliche Lebensbedingungen für Menschen. Der quasi koloniale russische Versuch gewaltsamer Territorialeroberung ist damit nicht zuletzt eine Verletzung von fundamentalen Rechten der Bewohner*innen – ob diese nun deportiert werden oder gezwungen sind, in die verbleibenden Teile der Ukraine zu flüchten.

Territorium ermöglicht Selbstherrschaft

Dass diese Rechte und letztlich ein erfülltes menschliches Leben nicht an territoriale Staatlichkeit gebunden sein müssen, dass es auch anders sein könnte, steht auf einem anderen Blatt. Unter Bedingungen der gegenwärtigen Staatenwelt aber ist Territorium sowohl ein Faktor vollwertigen Lebens als auch Medium demokratischer Selbstbestimmung. Zugehörigkeit zu einem demokratischen Gemeinwesen bedeutet auch Zugehörigkeit zu einem territorial begrenzten Gebiet – und erst diese Zugehörigkeit ermöglicht Selbstherrschaft.
Besonders augenfällig ist das in föderalen Demokratien, in denen die Bürger*innen ihre demokratischen Rechte auch auf Ebene der Bundesländer ausüben. Man stelle sich vor, Deutschland müsste an einen externen Aggressor ein Bundesland, zum Beispiel Sachsen, abgeben, die sächsische Bevölkerung aber müsste in die anderen Bundesländer migrieren. Jene demokratischen Rechte, die sich auf das sächsische Territorium beziehen, würden verpuffen.

Die Kehrseite der Selbstbestimmung

Vor diesem Hintergrund erscheinen manche pazifistisch gewandeten Forderungen, die Ukraine müsse notfalls eben die Krim oder Luhansk "abgeben", naiv bis suspekt, als sei Territorium eine beliebige Verhandlungsmasse. Die Haltung der ukrainischen Mehrheit ist demokratietheoretisch deutlich plausibler.
Im Imperativ territorialer Selbstbestimmung lauern allerdings auch Gefahren – darf am Ende eine regionale Bevölkerung selbst über ihre territoriale Zugehörigkeit zu einem Staat entscheiden? Diesen Trumpf versucht der Kreml regelmäßig zu ziehen. Letzten Montag hätten im Donbass russisch inszenierte "Unabhängigkeitsreferenden" stattfinden sollen. Aus diesem perfiden Plan ist erst einmal nichts geworden. Die Ukrainerinnen und Ukrainer kämpfen nun weiter für ihr Land und ihre Rechte.

Eva Marlene Hausteiner ist Professorin für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Sie forscht zu politischen Narrativen und Rechtfertigungsstrategien, zu Föderalismus und Imperien und ist Redaktionsmitglied der "Politischen Vierteljahresschrift".

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