Ulf Erdmann Ziegler: "Die Erfindung des Westens - Eine deutsche Geschichte mit Will McBride"
Suhrkamp Verlag 2019, 208 Seiten, 20 Euro
Wie ein Amerikaner die prüde Bundesrepublik provozierte
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Als der Amerikaner Will McBride 1953 nach Deutschland kommt, ist die Liberalisierung der Bundesrepublik noch mehr als ein Jahrzehnt entfernt. Er beginnt mit dem Fotografieren - und fordert die Sittenwächter der alten Bundesrepublik heraus.
Will McBride kommt 1953 als GI nach Deutschland und ist von nun an zur rechten Zeit am rechten Ort. Der junge Mann mit Interesse an Fotografie wohnt nach der Militärzeit in Worpswede, hält sich in Künstlerkreisen auf und lernt seine künftige Frau Barbara kennen. Kurz vor dem Mauerbau zieht er nach West-Berlin und lernt eine Clique junger Leute kennen, deren existenzialistische Hipness zu den bekannten Motiven seiner fotografischen Arbeit zählt. Ihn fasziniert "die fast unzumutbare Herausforderung, sich auf verbrannter Erde neu erfinden zu müssen". Zur gleichen Zeit wird McBride von den auflagenstärksten Illustrierten Deutschlands und der USA als freiberuflicher Fotoreporter engagiert. Er lernt Politiker wie Konrad Adenauer und Willy Brandt persönlich kennen.
Ein Foto seiner schwangeren Frau erhitzte die Gemüter
Jetzt knüpft er die entscheidenden Kontakte für seinen weiteren Werdegang. Im Umfeld der Ulmer Hochschule für Gestaltung (HfG), die die Demokratisierung des Designs als ästhetischen Wiederaufbau vorantreibt, lernt er Willy Fleckhaus kennen, den späteren Ausstatter des Suhrkamp Verlags und Art Director der stilprägenden Jugendzeitschrift twen. McBride verlässt West-Berlin und lässt sich in München nieder, wo die Redaktion von twen sitzt, für die er regelmäßig arbeitet. Er baut eines der größten Fotoateliers der damaligen Zeit auf, eine Art Factory im Stile Andy Warhols, wo Kunst und Leben zusammenfallen, auch manche seiner Models wohnen dort.
In München erreicht er den Zenit seines Schaffens und befördert die Liberalisierung des alten West-Deutschlands, indem er zwei Skandale provoziert. 1960 fotografiert er seine Frau Barbara, als sie schwanger ist: vollständig bekleidet, im Profil, mit offenem Jeans-Reißverschluss. Die Sittenwächter der alten Bundesrepublik laufen Sturm, erreichen aber weder Prozess noch Verbot. Überdies veröffentlicht McBride 1974 ein Aufklärungsbuch, "Zeig mal", in dem nackte Kinder, Jugendliche und Erwachsene sich in imaginierten Dialogen befinden. Die Sittenwacht beschuldigt ihn der Pornografie und Aufforderung zur Unzucht. Dabei hat McBride ein ganz anderes Anliegen, wie Ulf Erdmann Ziegler betont: "Er wollte Sexualität nicht entzaubern, sondern entdämonisieren."
Unbefangene Nacktheit? Ein Skandal!
Die These dieses Essays lautet, McBride habe einen Blick für Menschen gehabt, die eine Zukunft verkörpern, die noch nicht eingetreten ist. Er habe die spätere Bundesrepublik schon einmal erfunden, als noch Spießer den Ton angeben, die keine schwangere Frau sehen und ihre Kinder nicht aufklären wollen. McBrides Mittel sind denkbar einfach: Er fotografiert Körper. Sein fotografischer Blick zeigt Sexualität als Teil der Menschlichkeit. Auch die Beatles werden auf ihn aufmerksam und bestellen ein Cover bei ihm. Sie bekommen eine weiße Pappe ohne Foto, auf der der Titel des Doppelalbums eingestanzt ist: "The Beatles". Aber bis heute wird es nur "Weißes Album" genannt. Ende 1968, als es erscheint, schließt die Hochschule für Gestaltung in Ulm.
Ein Essay und drei Dutzend Fotos in einem großformatigen Band der edition suhrkamp, das funktioniert, weil Ulf Erdmann Ziegler zu allen Fotos und zum Umfeld ihrer Entstehung etwas schreibt. Es ist kein Fotoband. Die Fotos dienen der Illustration dieses vorzüglich geschriebenen Essays, der davon handelt, wie ein puritanischer Amerikaner die Liberalisierung West-Deutschlands vorantreibt.