Uli Krug: "Krankheit als Kränkung"
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Die Globalisierung schlägt zurück
07:21 Minuten
Uli Krug
Krankheit als Kränkung, Narzissmus und Ignoranz in pandemischen ZeitenTiamat, Berlin 2022112 Seiten
16,00 Euro
Was haben wachsende Slums afrikanischer und asiatischer Metropolen mit hiesigen Corona-Leugnern zu tun? Sehr viel, behauptet Uli Krug in seinem Essay „Krankheit als Kränkung“. Denn beide seien Ergebnis globaler Produktionsbedingungen.
Der moderne verwöhnte Mensch der nördlichen Hemisphäre, meint der Autor, nimmt seine Umwelt als Fertiggericht wahr, mit dem zusammen er auf jedem Selfie vorteilhaft aussehen will. Wenn das nicht gelingt, wittert er eine Verschwörung.
Im Gegensatz dazu versucht der moderne arme Mensch in asiatischen und afrikanischen Slums ohne industriell produziertes Fleisch durchzukommen, weil es zu teuer ist, und ernährt sich von Wildtieren, was naheliegt, denn die Slums reichen bereits in deren Lebensräume.
In der Wissenschaft überwiegt die Meinung, die jüngsten gefährlichen Viren – Ebola und alle SARS-Varianten, also auch Corona – sind auf Menschen übertragen worden, die Kontakt mit Wildtieren hatten. Dieser Kontakt findet auf sogenannten Wet Markets statt, wo Wildtiere gehandelt werden, tot oder lebendig und ohne hygienische Standards.
Die Rückkehr des Abgedrängten
Slums in Asien und Afrika haben sich während der Globalisierung rasch vergrößert. Dort hausen Menschen, die für das Funktionieren internationaler Produktionsstraßen nicht benötigt werden. Außerhalb jeglicher staatlicher Fürsorge haben sich dort Überlebenspraktiken entwickelt, die für die von der globalen Produktion profitierende nördliche Hemisphäre immer bedrohlicher werden.
"Die Rückkehr des Abgedrängten erfolgt per Tröpfcheninfektion", schreib Uli Krug einmal, und es sei wohl kein Zufall, so der Autor, dass der erste deutsche Corona-Patient ein Mitarbeiter eines Auto-Zuliefererbetriebs war, der aus China zurückkam. Das Virus erreichte uns offenbar über die Lieferketten der Globalisierung.
Insofern werden beide Teile dieses Essays vom ökonomischen Argument zusammengehalten: Ohne die Praxis und die Ideologie der Globalisierung, also ohne die Ausnutzung und Verarmung der Dritten Welt, gäbe es die modernen Viren genauso wenig wie die narzisstische Deformation des modernen Luxusbewohners.
Der Einbruch des Realen
Der Autor erklärt eine der neuesten Erscheinungen, nämlich die Virusleugner, psychologisch. Als Gekränkte, die den Einbruch des Realen in ihre Wunschwelt beklagen und dafür nicht das Virus verantwortlich machen, sondern die, die es bekämpfen.
Die Kränkung von Coronaleugnern bestehe darin, die Entfaltung ihrer Persönlichkeit behindert zu sehen von einem undurchschaubaren und sowieso unter Verdacht stehenden Realitätsprinzip. Mit ihren Verschwörungserzählungen besetzten sie die Stelle des Irrglaubens um.
Nicht sie, die Leugner sind irrational, sondern die reale Welt ist wahnsinnig und will nun alle mit sich in den Abgrund reißen. Dagegen müsse man sich wehren, und schon erscheinen Corona-Leugner vor sich selbst als die einzigen rationalen Akteure, die die Menschheit vor ihrer Vernichtung retten können.
Die Globalisierung schlägt also zurück, stellt Uli Krug in seinem lesenswerten Essay fest. Viele Bewohner des reichen Teils der Welt erliegen einer Verwechslung von Ursache und Wirkung, weil sie sich mit ihrem Selbstbild, dem Selfie, beschäftigen, nicht aber mit der globalen Realität, die ihr Leben bestimmt.