Ulrich Blum: Kultur ist wichtiger ökonomischer Baustein

Ulrich Blum im Gespräch mit Holger Hettinger |
An der Kultur wird in Zeiten knapper Kassen gerne gespart, besonders die Orchester bekommen das zu spüren. Doch bevor man in diesem Bereich über Gehaltskürzungen und Entlassungen redet, sollte man ein Kriteriensystem für Qualität erstellen, findet Ulrich Blum, Präsident des Instituts für Wirtschaftsforschung Halle. Kultur könne man nicht einfach wegkürzen: "Moderne Gesellschaften brauchen einen Kultursektor, damit sie vernünftig funktionieren".
Hettinger: Für die über 100 professionellen Orchester in Deutschland wird die Luft immer dünner. Die öffentlichen Haushalte sind unter Druck und die Haushaltspolitiker lassen sehr oft deutlich durchblicken, dass die Kommunen andere Sorgen haben, als ausgerechnet Orchester finanziell auf Rosen zu betten. Überhaupt: Die vielen Privilegien und Zulagen - das sind willkommene Zielscheiben, wenn es darum geht, gegen Orchester zu polemisieren. Die Realität sieht anders aus. Trotz Lohnverzicht stehen viele Orchester vor dem Aus, insbesondere die in Ostdeutschland.

Die Orchester und das liebe Geld - das ist nun mein Thema mit Professor Ulrich Blum, dem Präsidenten des Instituts für Wirtschaftsforschung Halle. Das Institut hat für die Deutsche Orchestervereinigung eine Studie gemacht über die Finanzierung von Orchestern.

Herr Blum, seit 1992 zum ersten Mal alle deutschen Kulturorchester statistisch erfasst wurden, mussten 35 Orchester aufgeben oder fusionieren. Über 2000 Stellen wurden abgebaut, die meisten davon in Ostdeutschland. Warum mussten ausgerechnet die Orchester in den neuen Bundesländern so sehr Federn lassen?

Ulrich Blum: Es gab zwei Gründe, zuerst einmal war die Dichte sehr, sehr hoch, weit höher als in Westdeutschland, und das Zweite ist, dass ein Orchester natürlich auch eine Nachfrage benötigt, die es in den Größenordnungen, die letztlich auch durch die Subventionsbereitschaft der öffentlichen Hand begrenzt sind, sozusagen finanziert. Man muss einfach zur Kenntnis nehmen, dass seinerzeit die völlig anderen Tarifstrukturen, also insbesondere Lohnstrukturen, das Überleben von Orchestern in Ostdeutschland in einem Maße möglich gemacht haben, die unter marktwirtschaftlichen Bedingungen einfach nicht machbar waren. Letztendlich sind die Tarifentgelte in den Orchestern doch sehr stark nach der Wende gestiegen, und damit war natürlich auch der Abbau letztlich programmiert.

Hettinger: Das heißt, den Orchestern sind zum einen die Kosten davongelaufen, auf der anderen Seite das Publikum weggebrochen, um das vernünftig subventionieren zu können?

Blum: Ja, das ist ein Problem, das ja nicht nur der Osten hat, sondern das Problem ist, dass ja zu einem Publikum, das die Orchester schätzt, eine, sagen wir mal, gewisse Erziehung, eine gewisse Bildung gehört. Und letztlich an vielen Stellen - mit unserer sehr stark technologieorientierten Verfahrensweise, auch in der Bildungspolitik - müssen wir aufpassen, dass wir nicht das Publikum der Zukunft zunehmend verschrecken beziehungsweise gar nicht an die klassische Musik heranführen.

Dann sieht natürlich auf der anderen Seite auch die Lage bei den Orchestern schwierig aus, deshalb, weil oft keine Bereitschaft zum Experimentieren besteht, um gerade junge Menschen an die Musik heranzuführen. Vielleicht ist es auch so, dass die Musik sich selber geändert hat. Wenn Sie in die 60er- und 70er-Jahre hineingehen, da gab es eine Vielzahl von Stücken von modernen Künstlern, die sich auf klassische Themen ... Ich denke einfach mal an das Bourrée als klassisches Motiv von Bach, das von vielen, vielen modernen Musikern, auch Popmusikern, interpretiert wurde. Das ist dünner geworden, und vielleicht ist damit auch ein Transfer sehr viel schwieriger als früher.

Hettinger: Das, was diese über 100 Kulturorchester in Deutschland liefern, ist nur noch ein elitäres Vergnügen für eine verschwindend geringe Anzahl von Menschen?

Blum: Ich weiß es nicht, ob man es wirklich so hart sagen darf. Es ist natürlich ein Publikum, das älter wird, der Zugang in der jüngeren Generation ist seltener. Er ist da und es gibt wirklich ganz ideologisch fixierte - im Englischen würde man sagen, captive - Menschen, die auf jeden Fall sich keine der guten Aufführungen entgehen lassen.

Aber man muss natürlich auch dazu sagen: Exzellenz ist in einer marktwirtschaftlichen Ordnung mit hoher Mobilität viel stärker nachzuvollziehen. Und wenn Sie die Möglichkeit haben, bei den Bamberger Sinfonikern oder bei der Staatskapelle in Dresden ein Stück zu hören und für nicht sehr viel weniger Geld das auch in der Provinz lange nicht so qualitativ hochwertig angeboten bekommen und die Mobilität sehr preiswert ist, dann hat natürlich ein Provinzorchester Probleme. Dabei sind gerade die Provinzorchester oft die Startbühnen für junge Leute, und insofern braucht man einen Unterbau, will man einen guten Überbau haben, und das ist natürlich dann auch die Schwierigkeit, die wir langfristig zu vergegenwärtigen haben.

Hettinger: Orchestermusiker werden ja nach dem TVK, dem Tarifvertrag für Kulturorchester, bezahlt. Da gibt es regelrechte Klassengesellschaften, so wie in der Bundesliga, erste, zweite, dritte auch. Die, die ganz oben spielen - die Berliner Philharmoniker beispielsweise -, das sind Spitzenverdiener, denke ich, so kann man das sagen, und in den unteren Klassen, da sieht es dann doch relativ stramm und oft relativ delikat aus. Haben diese Orchester, die ja auch zur Grundversorgung, zur regionalen Grundversorgung dazugehören, überhaupt eine Chance in Zeiten knapper Kassen?

Blum: Ja, glaube ich schon. Zunächst mal ist klar die Frage zu stellen: Wie viel von den Subventionen wird eigentlich für Häuser ausgegeben, die man auch so erhalten müsste? Ein ganz großer Teil unserer Häuser sind denkmalgeschützt. Das heißt, dann werden die hohen Kosten teilweise auch den Orchestern angelastet, einen alten Palast aufrechtzuerhalten, und viele Gebäude, die wir in den 60er- und 70er-Jahren gebaut haben, sind auch nicht gerade besonders günstig im Unterhalt.

Ich glaube, da ist eine Klassengesellschaft, aber die haben Sie ja auch woanders. Ich meine, als weniger Qualifizierter lernen Sie auch, sich Mühe zu geben und sich weiterzuqualifizieren, damit Ihr Lohnniveau auch als Arbeitnehmer steigt. Ich glaube, das ist eine typische Sache in der marktwirtschaftlichen Ordnung, übrigens die gab es auch in der DDR. Das ist keine Neuerung nach der Wende, sondern da wurden auch die Menschen in Orchestern unterschiedlich, je nach Standort, bezahlt und das ist eigentlich ein weltweites Phänomen. Dagegen ist eigentlich nichts zu sagen, denn Exzellenz sollte seinen Preis haben.

Hettinger: Dieser TVK, dieser Tarifvertrag für Kulturorchester, stammt in seinem jetzigen Zuschnitt eigentlich aus dem Jahre 1971, aus dem Westdeutschland des Jahres 1971. Da ging es ja eigentlich noch allen gold, da war es eine Ehre, Geld für Kultur auszugeben. Diese Haltung und auch dieses Zulagensystem, dieses üppige Bonussystem - ist das etwas, was den Orchestern heute finanziell das Genick bricht?

Blum: Man muss ja auch einem Mitglied eines Orchesters irgendwie die Möglichkeit geben, halbwegs angemessen zu leben und man muss auch eine Vergütung anbieten, die dazu führt, dass Leute es interessant finden, diesen Berufsweg zu nehmen. Wenn Sie die Vergütung ... Die Vergütung hat ja immer mehrere Aufgaben. Die einfachste Sicht ist, dass sie den Mann oder die Frau ernährt, das ist in der Marktwirtschaft aber eigentlich das von den Knappheiten irrelevanteste.

Viel wichtiger ist zunächst einmal, Leute anzuziehen, dass sie in diesen Beruf hineingehen, und wenn eben die Vergütung zu niedrig ist, dann gehen immer weniger in diesen Beruf hinein und dann ist die normale marktwirtschaftliche Lösung, dass die Tarife deshalb steigen müssen. Das haben wir in vielen Bereichen in den ganz normalen Berufen ganz extrem mitbekommen. Da gingen erst die Tarife für die Informatiker dramatisch in die Höhe, bis die Ausbildung immer stärker wurde, und dann gingen die Eingangsgehälter auf Normalmaß zurück.

Und genau dieses Steuerungsventil ist natürlich im öffentlichen Bereich ausgesprochen schwierig, weil eine Verknappung im Angebot - weil es nicht attraktiv ist - gerne gesehen wird, um dann das ganze Angebot überhaupt herunterzufahren.

Letztendlich entscheidet sich die Frage nach der Überlebensfähigkeit der Orchester wie bei der Überlebensfähigkeit eines Restaurants: Die Leute haben nicht deshalb einen guten Gaumen, weil es viele Restaurants gibt, sondern weil Leute einen guten Gaumen haben, finden sich die Restaurants in der Region. Und wenn Leute viel Ahnung von Musik haben und Musik lieben, dann wird das auch eine adäquate Unterstützung durch Orchester geben, und ich glaube, da ist der Weg, den man in Zukunft stärker gehen muss.

Hettinger: Wie ist das bei den Musikern? Es wird ja oft lamentiert, die haben so ein üppiges System an Zulagen, an Zuschüssen, für alles gibt es irgendwas extra. Ist das einzigartig, oder finden solche Bonus- und Anreizsysteme auch in anderen Bereichen Anwendung?

Blum: Das ist schon ziemlich einzigartig, es ist aber dann nicht mehr so einzigartig, wenn man den Kultursektor insgesamt nimmt. Es findet sich beim Theater genauso. Man kann sich vielleicht eher die Frage stellen, ob die Vergütung innerhalb des Kultursektors stimmig ist. Es ist oft so, dass die Bühnenarbeiter besser verdienen als die Schauspieler. Ohne Schauspieler ist ein Theater viel schlechter zu konstruieren als ohne Bühnenarbeiter. Auf die kann man notfalls sogar manchmal verzichten, dann wird das halt etwas abstrakter, aber trotzdem oft noch verständlich und manchmal auch besonders interessant.

Ich glaube, diese Sachen werden insgesamt viel, viel stärker in die Diskussion geworfen werden müssen, was die Infrastruktur ist, wie viel man an Outsourcing auch leisten kann. Man muss ja nicht jede Kulisse sozusagen von einer eigenen Mannschaft herstellen lassen, da kann man sich ja auch von außen helfen lassen, da gibt es Betriebe, die das machen und das ist ja an einigen Stellen auch schon Gang und Gäbe. Ich glaube, da wird sich eine Menge tun.

Aber es ist natürlich richtig: Da ist eine Tradition, die aus einer anderen Zeit stammt und die sich verändert, und was natürlich auch richtig ist, ist, dass natürlich jede Nebentätigkeit in den offiziellen Gehaltslisten nicht auftaucht. Wenn ein Musiker nachmittags Geigenunterricht gibt, dann taucht das in der Vergütungsstruktur der Orchester nicht auf, und so kann sich doch bei einigen ein ganz gutes Zubrot ergeben, das gar nicht in den normalen Berichten tarifiert ist.

Hettinger: Die Strukturen, die Sie angesprochen haben, sind ja teilweise verwirrend. Wenn ich mir jetzt so ein Theater vorstelle, da haben Orchestermusiker eine eigene Interessenvertretung, die Sänger, die Technik, die Verwaltung. Ist es überhaupt möglich, in diesem doch eigentlich eher überschaubaren Betrieb, an dem an so vielen Fäden gezogen wird, so etwas wie eine gemeinsame Lösung zu finden?

Blum: Ja, das ist schwierig. Ich glaube, das ist ein Herkules-Akt, und ich glaube, dass es sicher nicht vernünftig ist, einen solchen Herkules-Akt gleichzeitig mit der Druckposition von Entlassungen und massiven Kürzungen in diesem Bereich zu verbinden. Sie kriegen dieses eigentlich nur separat hin. Sie müssen einmal über Qualität reden, und wenn Sie über Qualität reden, dann kann man ein Kriteriensystem aufbauen, was man braucht und was man nicht braucht, und dann sollte man innerhalb der Qualität über das Vergütungssystem reden.

Wenn man versucht, beides gleichzeitig zu lösen, dann generiert man für meine Begriffe ganz schnell das Gefühl, mit dem Qualitätssystem die Vergütung zu ruinieren, und das halte ich nicht für besonders gut, weil es letztlich sehr viel Widerstand erzeugen wird. Gerade bei solchen Sachen ist Transparenz ausgesprochen wichtig.

Und man sollte, gerade wenn man solche Herkules-Aufgaben angeht, immer wissen: Moderne Gesellschaften brauchen einen Kultursektor, damit sie vernünftig funktionieren. Kultur hat ja den Zweck, auch die Reibungsverluste in einer Gesellschaft geringer werden zu lassen. Wenn Sie kapiert haben, dass die "Weber" eine elende soziale Situation sind, dann kann man vielleicht bei den Begüterten Barmherzigkeit und den anderen Leistungswillen erzeugen, um solche Situationen zu vermeiden. Und dazu dient Kultur, das gilt genauso für die Musik, das gilt für die Malerei, alles hat damit zu tun und ist ein ökonomischer Baustein, den man nicht unterschätzen sollte.