Let's Talk About Sex
Fast überall wird über Sex geredet, doch in der Partnerschaft fällt es vielen schwer, offen über sexuelle Wünsche, Vorlieben oder Probleme zu sprechen. "Das indiskrete Fragebuch" soll Paaren dabei helfen - ohne gleich alle Geheimnisse zu offenbaren.
Andrea Gerk: Ein Sexbuch, in dem genau genommen nichts über Sex steht, sondern nur 201 Fragen, die man sich selbst oder dem Partner zu diesem Thema stellen kann, hat Ulrich Clement veröffentlicht. Er ist einer der bekanntesten Sexualwissenschaftler hierzulande und ein erfahrener Paartherapeut, er lehrt als Professor an den Universitäten von Basel und Heidelberg, und dort bin ich jetzt mit ihm verbunden, guten Tag, Herr Clement!
Ulrich Clement: Ich grüße Sie!
Gerk: "Das indiskrete Fragebuch" heißt Ihr Kompendium, es umfasst neun Themengebiete – die reichen von der eigenen Vergangenheit über Probleme bis Fantasien – und enthalten Fragen, die zum Beispiel lauten: Hast du schon einmal unbedacht oder aus Übermut etwas getan, das du im Nachhinein bereust? Oder: Wie ergreifst du beim Sex die Initiative. Oder auch mal die Aufforderung, sich außerhalb moralischer Begrenzungen eine Orgie auszumalen. Sind das denn Fragen aus Ihrer therapeutischen Praxis oder wie haben Sie die entwickelt?
Clement: Teilweise. Es sind teilweise Fragen, die ich auch in der Therapie stelle, und die dann oft auch als überraschend erlebt werden. Die Beispiele, die Sie genannt haben, sind ja keine, die man im Alltag so stellen würde. Und es sind einige dabei, die sind zu scharf oder zu riskant sozusagen, um sie in der Therapie zu stellen, wo ja meistens eher empfindliche und verletzliche Menschen hinkommen. Aber im Prinzip sind die alle therapiefähig.
Was ist deine sexuelle Persönlichkeit?
Gerk: Das dachte ich auch, als ich Ihr Buch durchgesehen habe. Denn, wenn man diese Fragen versucht sich zu beantworten, dann merkt man, da geht es ja gar nicht wirklich allein um Sexualität, wenn man sich zum Beispiel damit auseinandersetzt, was das beste erotische Erlebnis meines Lebens war oder was ich vom Partner alles lieber nicht wissen möchte – da geht es doch eigentlich um die ganze Persönlichkeit, ums Eingemachte oder?
Clement: Genau, das ist eigentlich das Interessante an der Sexualtherapie, dass es um die ganze Person geht und nicht nur um Handlungen. Also man kann ja dies und das machen, das ist sozusagen alter Stil von Sexualtherapie. Worum es mir geht, ist, wer bist du als sexuelle Person, wer bist du als Mann, als Frau – und was ist deine sexuelle Persönlichkeit? Und da passen genau diese Fragen hin.
Gerk: Das heißt, das wäre auch völlig in Ordnung, wenn Leute sagen, Sex interessiert mich eigentlich gar nicht, alle sagen immer, man muss dauernd Sex haben und das ist die Erfüllung des Lebens, das muss man gar nicht.
Clement: Nein, das kann eine große Befreiung sogar sein, zu sagen, ich habe den sexuellen Teil meines Lebens hinter mir oder ich möchte ihn gar nicht mehr überhaupt in Angriff nehmen. Also, man hätte früher gesagt, jemand ist gehemmt oder gestört, wenn er sowas sagt oder sie sowas sagt. Das würde ich heute überhaupt nicht tun, sondern die Freiheit zur Asexualität ist auch eine ganz große Freiheit, genau wie die zur Sexualität.
Gerk: Jetzt schreiben Sie am Anfang, man kann das Buch eigentlich nutzen, wie man möchte. Also zum Beispiel für sich alleine, so als Selbstbefragung für den Psychoanalytiker, oder eben auch mit einem Partner zusammen, da haben ja viele Menschen besondere Hemmungen. Soll man die Antworten deshalb aufschreiben, weil das dann doch leichter fällt, als das auszusprechen?
Clement: Also das Vorgehen ist eine ganz heikle Geschichte, das ist ganz wichtig, dass man sich das vorher überlegt. Ein Aspekt ist, es gibt Fragen, die kann man sehr ernst nehmen und sehr gründlich sich angucken und man kann die eher spielerisch sich vornehmen. Und dann kann man sich Hintertüren offenhalten oder auch nicht. Mit dem Aufschreiben macht man die Hintertür zu, dann hat man es ja aufgeschrieben. Wenn man es nicht aufschreibt, denkt man es mal, und wenn der Partner danach fragt, was ist deine Antwort dazu, dann kann man sich vielleicht noch rausreden, wenn man möchte. Also, ich finde generell wichtig, dass im Sexuellen nicht die Regel gilt, man muss alles sagen. Sondern das Recht zum Sprechen und das Recht zum Schweigen sind gleiche Werte in meinen Augen. Man kann bei vielen Fragen auch sagen, mit der Frage möchte ich mich nicht auseinandersetzen oder wenn schon, dann mit mir alleine und nicht mit dem Partner.
Jeder sollte seine Grenzen kennen
Gerk: Es kann ja auch ganz schön sein, Dinge für sich zu behalten und halt nicht alles zu teilen. So etwas wie Fremdheit gehört ja auch zur Erotik dazu, hat denn da die Offenheit auch so Grenzen, ganz klare?
Clement: Ja, die hat Grenzen und es ist auch ganz klug, diese Grenzen zu bewahren. Man kann nicht sagen, je offener, desto unerotischer, desto gesünder jemand ist. Ganz im Gegensatz, sexuell kompetent zu sein heißt, die Grenze zu kennen, wo ich mich mitteilen möchte und was ich nicht mitteilen möchte. Da ist das, was ich für mich behalten möchte, auch Teil meines Innenlebens. Und ich bin ja nicht geständnispflichtig. Das ist eine interessante Frage, eine moralische Frage fast schon, ob Partner ein Recht auf die Sexualität des anderen haben. Also habe ich ein Recht, von meinem Partner alles zu erfahren und habe ich meinerseits ein Recht, dem Partner was zu verschweigen, ohne dass ich dafür angeklagt werde?
Gerk: Ist das denn so ein Grundmissverständnis in unserer Zeit, wo ja so Intimität, Nähe und Offenheit so ganz groß geschrieben werden und für ganz besonders wichtig in Beziehungen gehalten werden?
Clement: Wie alle Werte, die so eindeutig auf eine Seite gehen, sind die nicht alltagstauglich. Also, wenn man die Regel hat, du musst mir alles sagen, das ist fast schon terroristisch in einer Partnerschaft. Gesünder – oder das Wort gesund ist vielleicht ein bisschen komisch in dem Zusammenhang –, aber stabiler ist die Regel, ich wähle aus und ich gestehe auch dem Partner zu, dass der Partner auswählt, was er mir sagen möchte und was er für sich behalten möchte – und es ist sein gutes Recht.
Gerk: Man kann ja Ihr Buch auch nur teilweise oder eben für sich selbst beantworten und sich damit auseinandersetzen, aber man kommt ja da mit einem Problem in Berührung, dass Sexualität ja so eine Erfahrungsebene berührt, die sich gar nicht so leicht in Sprache übersetzen lässt. Gerade hier in der Literatur, mit der wir uns oft beschäftigen, ist das ja ein gutes Beispiel, wie schwer das ist und wie sehr das schiefgehen kann, Sex und sexuelle Fantasien zu beschreiben. Was sagen Sie dazu, wie kann denn da Ihr Buch helfen?
Clement: Dass es schwierig ist, macht die Sache ja noch nicht unsexuell, also die Schwierigkeit kann ja eine sexuell interessante Situation sein. Ich schäme mich zum Beispiel, ich mag etwas nicht ausdrücken – dann ist ja die Lösung nicht unbedingt drin, ich rede schon frei drauf los, sondern ich sage auch mal meinem Partner, ich tue mich schwer, ich muss mir das noch mal überlegen. Also Schamschwellen finde ich zum Beispiel etwas durchaus Angemessenes. Und es heißt nicht, frei reden ist das Allerbeste, sondern man kann sich mit Sprache schwertun, kann eine Sprache finden oder erfinden. In vielen Partnerschaften entwickelt sich die sexuelle Sprache auch erst im Laufe der Jahre, dass die nicht gleich die gleichen Ausdrücke haben, die gleichen Skripte haben, sondern dass sich das entwickelt. Und das ist auch ganz schön, wenn man das merkt, wie man sich im Laufe der Jahre zusammenfindet.
Die alten Normen gelten nicht mehr
Gerk: Offenbar ist ja auch die Unsicherheit sehr groß bei den Leuten, weil es werden ja wahnsinnig viele Sexratgeber verkauft, und ich nehme an, bei Ihnen in der Praxis ist auch einiges los und man kriegt wahrscheinlich keinen Termin. Was denken Sie, woher diese Unsicherheit kommt? Warum brauchen wir alle Rat in sexuellen Fragen?
Clement: Na, weil die guten, alten Normen nicht mehr gelten. Das war ja noch bis vor einem halben Jahrhundert war klar, was man darf, was man nicht darf, und die meisten haben es akzeptiert. Und heute ist das alles offen. Wir sind heute ja in einer offenen Zeit in der anderen Schwierigkeit, nicht, dass wir gegen Normen verstoßen oder nicht, sondern eher, dass wir aus der Vielzahl der Angebote das auswählen müssen, was zu uns passt. Und diese Auswahl, die ist schwierig, es gibt keine Maßstäbe, ich bleibe zur Freiheit verurteilt, wie der Sartre mal so schön gesagt hat, ich muss auswählen, was für mich stimmt. Und das sagt mir niemand, mein Partner sagt es mir nicht und sonst auch niemand.
Gerk: Wie können Sie da helfen? Was macht denn für Sie eine gute Sexualberatung aus?
Clement: Indem man die beteiligten Klienten oder Patienten ermutigt, Ambiguitätstoleranz zu haben, wie es auch psychologisch heißt. Also, dass sie Uneindeutigkeit aushalten, dass sie aushalten, dass Dinge mal im Unentschieden bleiben, dass nicht alles gleich beantwortet werden muss, dass Dinge vielleicht erst nach einer bestimmten Überlegungszeit oder Lebenszeit beantwortbar sind. Also, die Offenheit für Unentschiedenheit, für Mehrdeutigkeit halte ich für eine gewichtige Kompetenz, da durchzukommen.
Gerk: Und das kann man mit Ihrem Buch auch ganz gut üben. Und es hat ja auch ein schönes Format, so handlich, man kann es überall mit hinnehmen, es sieht diskret aus. Kann man das auch einfach mal zu zwischendurch aufschlagen und reingucken und ein bisschen drüber nachdenken?
Clement: Ja klar, man sollte das immer bei sich haben und immer reingucken und, wenn man kein Gesprächsthema hat, dann kann man damit eins anfangen und die Frage 77 oder 192 sich vornehmen. Die Zahlen sind jetzt erfunden.
Gerk: Wieso sind es denn überhaupt 201 Fragen? Hat das eine tiefere Bedeutung?
Clement: Na, die 200 war so vom Verlag die Vorgabe, kriegen wir 200 Fragen, und eine habe ich noch, das ist die Schlussfrage, welche Frage von allen 200 findest du die Interessanteste, das ist die 201. Frage.
Gerk: Da kann man sich schon mal ein Jahr damit beschäftigen. Ulrich Clement, vielen Dank für dieses Gespräch!
Clement: Danke Ihnen!
Gerk: "Das indiskrete Fragebuch", über das wir gesprochen haben, ist im Verlag Kein & Aber erscheinen und es kostet 14 Euro.
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