Ulrich Hamenstädt (Hg.): Politische Theorie im Film
Verlag Springer VS Fachmedien
328 Seiten, 39,99 Euro
Wenn Kino etwas über die Gesellschaft verrät
Filmkritiker betreiben immer öfter nur Entertainment-Unterstützung - dabei kann man Filme auch politisch analysieren. Im Sammelband "Politische Theorie im Film" geschieht das etwa am Beispiel des "Paten" oder der TV-Serie "Game of Thrones". Das ist spannend und erkenntnisreich.
Eine zentrale Szene aus Francis Ford Coppolas Mafia-Klassiker "Der Pate" zeigt die Verwandlung eines Mannes. Michael Corleone, gespielt von Al Pacino, hat seinen niedergeschossenen Vater im Krankenhaus besucht. Er hat ihm den Handkuss gegeben. Dann merkt er, dass die Leibwächter des Mafia-Bosses nicht mehr da sind. Der junge Mann, der eigentlich aus der Gangsterfamilie, in die er hineingeboren wurde, aussteigen wollte, geht vor die Tür des Krankenhauses, stellt sich im dunklen Mantel, die eine Hand in der Tasche, als hätte er eine Pistole da drin, auf die Eingangstreppe. Die Attentäter fahren in einem Wagen vor, zögern, fahren weiter. Was bedeutet diese Szene, fragt André Beckershoff, für die Verwandlung des, wie es anfänglich schien, verlorenen Sohnes, der am Ende des Films der neue Mafiaboss sein wird?
"Indem Michael sich verhält wie ein Mafioso, wird er auch als solcher erkannt. Michael erscheint nun nicht mehr als Außenseiter, sondern in seinem Element. Mit Bourdieu gesprochen, wird hier der körperliche Aspekt des Habitus deutlich. Michael verändert seine Körpersprache so, dass die nahenden Attentäter, die mit ähnlichen Wahrnehmungs- und Urteilsdispositionen ausgestattet sind, ihn als bedrohlich erkennen beziehungsweise verkennen."
"Mit Bourdieu gesprochen", schreibt André Beckershoff und hat damit seine Herangehensweise deutlich gemacht. Quasi durch die Brille den französischen Soziologen Pierre Bourdieu blickt er auf den Mafia-Klassiker von 1972. In seinem Aufsatz "Bourdieu und die Mafia: Die Transformation des Michael Corleone" zeigt der Politologe, wie sich Herrschaft auch über Wahrnehmung und Akzeptieren herstellt und stabilisiert. Beckershoff analysiert die Figur des zukünftigen Mafia-Paten in einem spannenden Licht und beschreibt - wie gesagt, immer Bourdieu im Handgepäck -, wie Körperhaltungen und Rituale Gewaltstrukturen entsprechen. Und als solche nicht wahrgenommen werden.
"Die Naturalisierung dieser 'ehrenwerten Gesellschaft' läuft über das Bild der Familie, verdeutlicht im Ehrentitel des 'Paten'. […] In unserer Gesellschaft werden Geschlechterverhältnisse, die sogenannte Globalisierung oder auch die Ausweitung von Marktmechanismen auf immer mehr gesellschaftliche Sphären naturalisiert und die materiellen Gewaltverhältnisse dahinter verschleiert. […] Tendenziell sehen wir unsere soziale Umwelt als natürlich an, statt sie als machtvermittelte Durchsetzung willkürlicher Ordnungen zu entlarven."
Wie taucht das gesellschaftliche Bild im Film auf?
Die Frage an den Film, die Herausgeber Ulrich Hamenstädt und die anderen Autoren des Sammelbandes "Politische Theorie im Film" stellen: Wie taucht das gesellschaftliche Bild im Film auf? Also in einem Medium, das Realitäten und Fiktionen abbildet und uns Interpretationen über diese Realität anbietet. Nehmen wir als weiteres Beispiel Kirsten Hoeschs Aufsatz über Roberto Rodriguez' Film "Machete" von 2010.
Ein kruder Krawallfilm? Ein Splatter-Movie? Oder ein anarchistisches Meisterwerk über einen gejagten und sich rächenden mexikanischen Migranten? Ein Film, der übrigens heute, in den Zeiten von Donald Trump, noch einmal ganz neu anzusehen wäre. Die Politologin Kirsten Hoesch geht in ihrem Aufsatz nicht den Daumen-hoch-Daumen-runter-Weg der gängigen Filmkritik, sondern illustriert anhand von Szenen und Figuren aus "Machete" den politischen und wissenschaftlichen Migrationsdiskurs in den USA. Wobei sich die Wissenschaftlerin am Ende klar sagt,
"... dass der Film zahlreiche Interpretationen zulässt, die vom Vorwissen und spezifischen Genre-Erwartungen des Betrachters abhängen. Auch Veränderungen in der wirklichen Welt haben die Verbindung zwischen Film und Realität - und die Art und Weise, wie der Zuschauer seine jeweils individuelle Deutung konstruiert - mit beeinflusst. Damit löst sich das Kunstwerk von den möglichen Absichten des Regisseurs und wird entlang der Wahrnehmungsfilter der Betrachter individuell neu geschaffen."
Kontrapunkt zur vorhersschenden Filmkritik
"Politische Theorie im Film": Der Titel des Sammelbandes, den der Münsteraner Politikwissenschaftler Ulrich Hamenstädt herausgegeben hat, ist irreführend, zumindest missverständlich. Denn bei den Betrachtungen über "Machete", den "Paten" oder Christopher Nolans Batman-Trilogie oder das Frauenbild in der TV-Serie "Game of Thrones" geht es weniger um die "politische Theorie im Film", sondern darum, ausgerüstet mit bestimmten politischen Theorieansätzen auf die Leinwand zu blicken.
Das ist durchweg anregend, spannend und erkenntnisreich. Gerade als Kontrapunkt zur vorherrschenden Filmkritik, die zunehmend Entertainment-Unterstützung betreibt. Die Wissenschaftler hingegen beharren in diesem Sammelband darauf, dass wir vom Blockbuster-Kino bis zum Arthouse-Film etwas sehen können über unsere Zeit, über die Strukturierung unserer gesellschaftlichen Machtverhältnisse. Die Autoren nehmen bestimmte Theorien zur Hand und graben sich mit ihrem theoretischen Handwerkszeug hinein in die Filmerzählungen, analysieren die Bilder, die sie dort finden, suchen nach einem historischen oder gesellschaftlichen Urgrund.
Da ist einiges zu finden, das beweisen die 14 Aufsätze, mal mehr, mal weniger ertragreich. Und wenn wir so blicken, dann können wir tatsächlich auch den "Fremdkörper politics" erblicken. Von dem spricht Kirsten Hoesch - Diederich Diederichsen zitierend - in ihrem Aufsatz über "Machete". Dieser "Fremdkörper politics", der den meisten Fans wohl noch nie ein Thema war...
"… jedenfalls keines, das einem beim Popcorn-Genuss dazwischenfunken durfte."