Ulrich Raulffs "Das letzte Jahrhundert der Pferde"

Von Menschen und Pferden

Ein Islandpferd steht auf einer Weide nahe Husavik im Norden von Island.
"Das Pferd wurde von der Geschichte besiegt..." © picture alliance / dpa / Patrick Pleul
Von Hannah Bethke |
Geschichte, Geschichten und Tiere: Ulrich Raulff zieht in seinem neuen Buch alle Register. Er analysiert die Rolle des Pferdes im vorletzten Jahrhundert und die ganz besondere Verbindung zwischen Mensch und Tier.
Vor wenigen Tagen ereignete sich in Troisdorf, einer kleinen Stadt in der Kölner Bucht, während des alljährlichen Erntedankfests ein Kutschenunfall. Zwei Pferde waren plötzlich durchgegangen und rasten mit der leeren Kutsche in die Menge der Festbesucher; mehrere Menschen wurden verletzt. Was wie ein Relikt aus vergangenen Zeiten wirkt, verweist auf eine tief verwurzelte Beziehung zwischen Menschen und Pferden, ohne die die Menschheitsgeschichte vielleicht gar nicht hätte geschrieben werden können. Ulrich Raulff legt diesen "kentaurischen Pakt" frei und erkundet in seinem bewegenden Buch "Das letzte Jahrhundert der Pferde". Es ist das "lange 19. Jahrhundert", das der Kulturwissenschaftler als berührende Geschichte einer Trennung zwischen Menschen und Pferden erzählt.
Energie, Wissen, Pathos – das sind für Raulff die drei Ökonomien, innerhalb derer die Geschichte der Menschen und die der Pferde aufeinandertreffen, sich verbinden und gegenseitig durchdringen. Doch wie konnte es zu dieser Verflechtung überhaupt kommen? Mit dem Pferd gelangt die Geschwindigkeit in die Geschichte; darin liegt seine wichtigste Leistung.
Das Pferd - die effizienzsteigernde Kraftmaschine
Als "animalischer Vektor", als "Tempo"- und "Kriegsmaschine", die die territorialen Herrschaftsmöglichkeiten um ein Vielfaches ausweitete, aber auch als effizienzsteigernde "Kraftmaschine" und unersetzliches Zug- und Lastentier wurde das Pferd zum politischen Tier und wichtigsten Gefährten des Menschen. Mehr noch: Erst mit dem Pferd, dem zentralen "Beweger", dem "Wesen aus Wind", das uns hilft, "die Bewegungen im Raum zu sehen und die Dinge von der Bewegung her zu verstehen", öffnete sich für den Menschen der Raum der Geschichte.
Nun war diese Beziehung aber keineswegs von absoluter Harmonie geprägt. Die Pferde, von Natur aus Fluchttiere, wurden von den Menschen gequält, missbraucht, getötet – aber ebenso verehrt, geliebt und zur "Figur des Mitleids" erhoben. In der Großstadt des 19. Jahrhunderts durchlebten die Pferde mit ihrem Gebrauch als Omnibus- und Trampferde eine "Pferdehölle", in den Kriegen der Kavallerie starben sie elende Tode, als Rennpferde wurden sie unter Qualen gepeitscht und getrieben. Und doch entwickelte der Mensch zum Pferd eine so innige Beziehung wie zu sonst keinem Tier. Mit Napoleon wurde das Reiten eines Pferdes zum Herrschaftssymbol, im Western begegnet uns das Pferd als Freund des Menschen, in den Gemälden des 19. Jahrhunderts spiegelt sich die "aristokratische" Wesensart, die den Pferden oftmals zugeschrieben wird.
Das Pferd - die "lebendige Metapher"
Ebenso spannend wie tiefgründig zeigt Raulff, wie die "Real- und Wissensgeschichten" der Pferde mit ihrem zunehmenden Verschwinden durch Bildergeschichten ersetzt werden, die das Pferd als "lebendige Metapher" entwickeln und in teils gespenstischem Gewand ihren Platz in der Kunst und Literatur wiederfinden. Mit der zunehmenden Technisierung und Mechanisierung der Welt wurde der Einsatz der Pferde obsolet. Das Pferd wurde von der Geschichte besiegt.
Liebe und Erkenntnis, betont Raulff, schließen einander nicht aus. Im Gegenteil, Wissensformen seien "umso interessanter, je dichter Erkenntnis und Emotion in ihnen unauflösbar verbunden sind". Liebe zum Gegenstand zeichnet auch sein eigenes Buch aus. Von der ersten bis zur letzten Seite versteht es Raulff, seinen Leser in den Bann zu ziehen und ihn am langen Abschied zwischen Mensch und Pferd teilhaben zu lassen. Selbst wenn man Pferde schon immer verabscheut hat: Spätestens nach diesem Buch liebt man sie.

Ulrich Raulff: "Das letzte Jahrhundert der Pferde. Geschichte einer Trennung"
C.H. Beck, München, 2015
464 Seiten, 29,95 Euro

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