"Eine Art der Selbstzensur"
Der Journalist und frühere "Tagesthemen"-Moderator Ulrich Wickert sieht die Berichterstattung über die Kölner Silvesternacht kritisch. Es gebe eine" falsch verstandene Toleranz" - und insgesamt ein gesellschaftliches Problem der Tabuisierung.
Ulrich Wickert, Journalist und früherer Moderator der "Tagesthemen", sieht die Position von Bundeskanzlerin Angela Merkel nicht als gefährdet an.
"Ich würde immer noch sagen: Merkel bleibt", so lautet seine Einschätzung im Deutschlandradio Kultur. Das Machtgefüge in Deutschland sehe derzeit niemand anderen als Bundeskanzler vor. Vor dem Hintergrund möglicher Ablösungsszenarien von Merkel in den Medien äußerte Wickert:
"Das müssten eigentlich auch alle die, die diese Schlagzeilen schreiben, wissen. Sie wissen, wie ein Kanzler gewählt werden kann oder gestürzt werden kann. Also das ist ja nur möglich mit der Mehrheit der Stimmen im Bundestag. Und es gibt keine Mehrheit für irgendeine andere Person."
Manchmal dürften Politiker dem, was über sie geschrieben werde, nicht folgen, betonte Wickert:
"Man muss einfach sagen: 'Ich führe einfach meine Politik weiter.' Und das würde ich in diesem Fall auch Frau Merkel raten."
Er verwies auf den Umgang der Medien mit Finanzminister Wolfgang Schäuble während der Griechenland-Krise im Jahr 2015. Er sei in den Zeitungen oft als derjenige beschimpft worden, "der Europa kaputt mache". Heute stehe Schäuble hingegen an der Spitze der Umfragen bei der Beliebtheit von Politikern.
Journalisten sind "Lemminge" und üben "Selbstzensur"
Wickert ging auch auf die Situation des Journalismus in Deutschland ein. Seiner Auffassung nach seien Journalisten zum großen Teil "Lemminge" und wollten nicht "den Trend verschlafen". Ein Beispiel sei etwa die Berichterstattung über die Kölner Silvesternacht. Es habe dabei nicht nur ein journalistisches Problem gegeben - dahingehend, bestimmte Dinge wegzuschieben. Es sei auch ein gesellschaftliches Problem "der Tabuisierung von Dingen" vorhanden gewesen, meinte Wickert:
"Wenn Sie sehen, dass die Polizei ja schon ganze Begriffe nicht mehr benutzt, aus der Angst heraus, Rassisten genannt zu werden, sehen Sie genauso bei den Journalisten eine Art der Selbstzensur. Dass man sagt: 'Gewisse Dinge, die werden wir nicht berichten, weil wir dann vielleicht den Rechtsradikalen Munition liefern.' – Falsch verstandene Toleranz."
Das Interview im Wortlaut:
Korbinian Frenzel: Es gibt dieses Bonmot über die Praxis einer großen deutschen Tageszeitung: "Wer mit 'Bild' im Fahrstuhl nach oben fährt, der fährt mit 'Bild' auch wieder runter." Das Phänomen kennen Tennis- und Schlagerstars, das kennt mindestens ein ehemaliger Bundespräsident. Das Phänomen ist aber, wenn wir uns die letzten Monate anschauen, kein "Bild"-Phänomen alleine, nicht mehr. Und das merkt vor allem eine Frau: Die Bundeskanzlerin.
(Einspielung verschiedener Schlagzeilen)
Schlagzeilen aus fünf Monaten. Felicitas Boeselager hat sie zusammengestellt. Tja, was ist das? Die realistische Abbildung dessen, was dieses Land denkt und fühlt, oder ein ganz krasses Beispiel dafür, wie Journalisten Meinung machen und damit am Ende auch Politik? Journalismus, Macht, Verantwortung – die drei Begriffe nimmt sich der Mann ab heute in einer Vorlesungsreihe in Düsseldorf vor, der jetzt unser Gesprächsgast ist in "Studio 9", der langjährige Moderator der "Tagesthemen", der Journalist Ulrich Wickert. Guten Morgen!
Ulrich Wickert: Guten Morgen, Herr Frenzel!
Frenzel: Herr Wickert, wie wäre denn Ihre Merkel-Schlagzeile, wenn Sie jetzt eine finden müssten?
Wickert: Das ist natürlich ziemlich schwierig, aber ich würde immer noch sagen, Merkel bleibt, Punkt. Und da gehe ich einfach davon aus. Das Machtgefüge in Deutschland sieht keinen anderen als Kanzler. Das ist ziemlich klar, und das müssten eigentlich auch all diejenigen, die diese Schlagzeilen schreiben, wissen. Sie wissen, wie ein Kanzler gewählt werden kann oder gestürzt werden kann. Das ist ja nur möglich mit der Mehrheit der Stimmen im Bundestag, und es gibt keine Mehrheit für irgendeine andere Person.
Frenzel: Wenn wir auf die Medien noch mal schauen, diese Spanne, im Herbst die Superkanzlerin, jetzt die, die unser Land in die Staatskrise führt. Wie glaubhaft sind Medien, wenn die Bewertungen so schwanken innerhalb so kurzer Zeit auch?
Apokalyptisches Denken von Journalisten
Wickert: Ich glaube, dass wir in Deutschland – das muss ich mal vorneweg sagen – wirklich gesegnet sind mit hervorragenden Medien. Also, wenn ich mir die "FAZ" angucke, Ihren Sender oder den Deutschlandfunk, die ich ständig höre, oder auch die "Süddeutsche Zeitung" oder andere – es gibt wirklich hervorragende Programme.
Es gibt aber ein Problem bei den Journalisten, das ist aber nicht nur ein deutsches Phänomen, dass man doch gerne apokalyptisch denkt. Das heißt, man schreibt das Schrecklichste herbei, weil man denkt, dadurch würde man den Hörer, den Zuschauer, den Leser einfangen. Und es wird leider, leider immer wieder da nachgedacht, wie bekomme ich die meisten Hörer, die meisten Leser. Das ist ein wirtschaftliches und kein journalistisches Denken.
Frenzel: Ist das Problem vielleicht nicht auch, dass man sich allzu sehr Stimmungen hingibt, also im Herbst die Willkommenskultur und jetzt eben diese Krisenstimmung. Sind wir Journalisten am Ende doch irgendwie Lemminge?
Tabuisierung bestimmter Probleme
Wickert: Ich fürchte, dass wir Journalisten zum großen Teil auch Lemminge sind, denn man will nicht den Trend verschlafen. Wenn wir jetzt uns mal die Geschichte mit dem Silvesterabend und der folgenden Diskussionen anschauen, dann stellen wir ja fest: Es gibt ja nicht nur ein journalistisches Problem, dass man gewisse Dinge einfach wegschiebt, sondern es gibt ein gesellschaftliches Problem der Tabuisierung von Dingen.
Und wenn Sie sehen, dass die Polizei ja schon ganze Begriffe nicht mehr benutzt aus der Angst heraus, Rassisten genannt zu werden, sehen Sie genauso auch bei den Journalisten eine Art der Selbstzensur, dass man sagt, gewisse Dinge, die werden wir nicht berichten, weil wir dann vielleicht den Rechtsradikalen Munition liefern. Falsch verstandene Toleranz.
Frenzel: Und warum machen das dann alle? Ich meine, das gilt ja sicherlich auch, Sie haben uns gerade lobend mit erwähnt mit den anderen Medien, aber ich glaube, ich kann für uns alle in Anspruch nehmen in kritischer Sichtweise, dass wir das alle mit betrieben haben. Warum?
Wickert: Ich glaube, das liegt daran, dass es einen gesellschaftlichen Kodex gibt. Man hat hier immer von Political Correctness gesprochen. Die wirkt bei allen. Das hat mit unserer Kultur zu tun, das hat mit vielen Dingen zu tun, die auf Kommunikation einwirken.
Frenzel: All das, was Sie beschreiben, das wirkt ziemlich reaktiv, wenn wir auf Medien schauen. Haben Sie den Eindruck, dass Medien gerade auch in diesem Thema, über das wir sprechen, in der Flüchtlingspolitik, teilweise auch eine Agenda betreiben, dass sie politische Ziele verfolgen?
Wickert: Ich glaube noch nicht mal, dass Journalisten politische Ziele verfolgen, sondern dass sie aus eigenem Empfinden heraus – also da kommt das Gefühl heraus und nicht die Vernunft –, dass sie aus eigenem Empfinden heraus meinen, gerade wir mit unserer Vergangenheit des Dritten Reichs, gerade wir müssen uns als besonders human erweisen. Und daraus ergibt sich dann meines Erachtens eben auch ein, wie ich mal sagen würde, einseitiges Denken.
Gefühl und Verstand
Frenzel: Sie haben gerade das Stichwort "Gefühl" genannt. Ist das möglicherweise auch eine Analyse dieser Situation, dass wir mit zu viel Gefühl in diese Themen reingegangen sind, am Anfang möglicherweise mit zu viel Empathie, jetzt mit zu viel Ängsten?
Wickert: Stimme ich völlig mit Ihnen überein. Wissen Sie, bei meinen Vorlesungen in Düsseldorf werde ich heute davon sprechen, dass die erste Regel des Handwerks die Aufklärung ist. Und da berufe ich mich auf den lieben Herrn Kant, der gesagt hat, Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Und dann definiert er Unmündigkeit eben: "Das Unvermögen, sich seines Verstandes zu bedienen".
Und da liegt das Problem. Die Gefühle, die beeinflussen uns so, dass wir unseren Verstand beiseite legen manchmal, und dann, wenn Sie gerade die sehr gefühlvolle Berichterstattung gesehen haben, dann gibt es eine ganze Reihe von Dingen, wo ich sage. Es wäre aber auch mal gut, wenn wir mehr Kritisches erfahren würden über das, was auch diese Flut von Flüchtlingen nach Deutschland bedeutet, über das absolut schreckliche Versagen der Behörden. Und da muss die Diskussion meines Erachtens auch ein bisschen kritischer geführt werden.
Frenzel: Ich möchte noch mal gern auf den Ausgangspunkt zurückkommen, nämlich auf Frau Merkel. Ich habe fast den Eindruck, das ist abgekoppelt von dem, was wirklich passiert. Kann eine Bundeskanzlerin – Sie sagen, Merkel bleibt – kann eine Bundeskanzlerin sagen, ich ignoriere das, was da geschrieben wird? Kann sie einfach regieren und sagen, die Machtverhältnisse sind andere? Oder muss sie hören, muss sie zuhören, muss sie diese Stimmung aufnehmen?
"Merkel sollte ihre Politik weiterführen"
Wickert: Ich wünsche ihr, dass sie einfach mal eine Zeit lang keine Kommentare und Artikel liest. Denn schauen Sie sich mal das letzte Jahr an. In der ersten Jahreshälfte gab es einen ganz schrecklichen, furchtbaren Politiker bei uns, der beschimpft wurde in den Zeitungen als derjenige, der Europa kaputt macht und die deutsch-französischen Beziehungen kaputt macht. Das war ein Mann namens Schäuble. Warum? Weil er eine gewisse Richtung vorgegeben hat in der Griechenland-Debatte.
Heute steht er an der Spitze der Umfragen in ganz Deutschland. Also da sehen Sie, manchmal darf man einfach dem, was über einen geschrieben wird, nicht folgen und muss einfach sagen, ich führe einfach meine Politik weiter. Und das würde ich in diesem Fall auch Frau Merkel raten.
Frenzel: Ulrich Wickert, Mister Tagesthemen, heute beginnt er seine Heinrich-Heine-Gastprofessur in Düsseldorf, "Journalismus, Macht und Verantwortung". Herr Wickert, vielen Dank für Ihre Zeit!
Wickert: Gern, Herr Frenzel!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.