Kleine Geschichte eines versuchten Aufbruchs
Vor dem Hintergrund der ersten Mondlandung siedelt Ulrich Woelk seinen neuen Roman an. Die späten 60er-Jahre seien "erzählerisch so wahnsinnig spannend", weil eine technisch ausgereifte Moderne auf ein unausgereiftes Geschlechterverhältnis treffe.
Dieter Kassel: Die erste bemannte Mondlandung und die konkreten Folgen der 68er-Revolte, beides war 1969 auch am Stadtrand von Köln zu erleben, wenn auch oft nur im Fernsehen. Und das mit dem Fernsehen meine ich nicht nur bezugnehmend auf die Mondlandung.
Wie er das erlebt hat, das erzählt ein elfjähriger Junge in Ulrich Woelks neuem Roman "Der Sommer meiner Mutter". Das Buch ist gerade erschienen, und Ulrich Woelk ist jetzt bei mir im Studio. Einen schönen guten Morgen erst mal!
Ulrich Woelk: Guten Morgen, Herr Kassel!
Kassel: Wenn Sie, Sie waren damals so ungefähr zwei Jahre jünger als der Junge in dem Buch, aber wenn Sie selber sich an das Jahr 1969 erinnern, was kommt Ihnen eigentlich zuallererst in den Sinn?
Woelk: Ja, ich hab eben wirklich sehr konkrete Erinnerungen, und es ist eben tatsächlich die Mondlandung gewesen, die da wirklich als Erstes in mir aufploppt. Es sind eben einfach diese Bilder, diese unscharfen, verrauschten Bilder vom Mond, die man bekam und die man wie magisch angeschaut hat und gesagt hat, das ist jetzt eben auf dem Mond.
Sicherlich hängt es auch damit zusammen, dass ich mich immer schon persönlich sehr für die Sterne und das Weltall habe begeistern können, insofern ist das bei mir sehr, sehr stark hängen geblieben.
Ich habe aber auch jetzt, als ich über das Buch gesprochen habe mit Freunden, festgestellt, dass die Mondlandung eines der wenigen Ereignisse ist, wo jeder, der - sagen wir mal - so ab 1960 geboren worden ist, eigentlich eine relativ konkrete Erinnerung hat, was er an diesem Tag oder in diesen Tagen gemacht hat, wo er war und was er gesehen hat. So viele Ereignisse von dieser Art gibt es ja gar nicht.
Kassel: Es ist spannend, was für ein Ensemble Sie erfunden haben für diesen Roman. Der Junge, dessen Vater ist Ingenieur. Der Junge interessiert sich sehr für die Mondlandung, der Vater auch, Mutter weniger, aber die sitzt schon in der Regel mit vorm Fernseher, und die bekommen neue Nachbarn, auch drei.
Die Tochter, ein klein bisschen älter als der Junge, weniger an Naturwissenschaften interessiert, macht sich andere Gedanken. Der Vater dieses Mädchens, der neue Nachbar, Philosophieprofessor, kommt neu an die Uni Köln, ist links, man geht mit der ganzen Familie auf Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg.
Ist das so etwas, wo Sie auch selber in Erinnerung haben, das war die Welt im nicht ganz großstädtisch geprägten Rheinland damals, diese Kombination – bisschen links, bisschen Standard, wechselnde Interessen?
Bombenalarm in der Schule
Woelk: Auf dem Gymnasium, auf dem ich dann etwas später in den frühen 70er-Jahren war, war das definitiv so, und das sind so meine Erinnerungen an eben diese Zeit. Irgendwann mal hieß es dann, es gibt einen Bombenalarm, wir mussten alle das Schulgebäude verlassen.
Das war etwas später, zugegeben, aber wie auch immer, jedenfalls so diese Mischung, in der bin ich groß geworden, die eben erst mal konservativ katholisch war. Ich war Messdiener, also das heißt, ich bin wirklich in diesem ganz klassischen konservativ-katholischen Umfeld groß geworden und dann gewissermaßen in eine Welt hineingewachsen, in die so langsam von außen die politischen Bewegungen, die Befreiung und dann natürlich auch später in den 70ern dann die Gewalt, der Terrorismus langsam reingesickert und eingebrochen sind.
Kassel: Ich finde, jetzt haben wir noch gar nicht über das gesprochen, worum es meiner Meinung nach in Ihrem Roman wirklich geht, das Hauptthema, der Roman heißt ja "Der Sommer meiner Mutter". Der allererste Satz, den der Junge in diesem Roman spricht, verrät uns, was am Ende passieren wird, der Satz lautet nämlich: "Es war der Sommer, in dem sich meine Mutter umgebracht hat."
Was dann aber passiert, ist ja schon erst mal so eine kleine Geschichte des versuchten Aufbruchs, das ist gar nichts Kompliziertes. Die Mutter möchte gerne arbeiten, sie möchte gerne Bücher, Krimis aus Großbritannien, ins Deutsche übersetzen, fängt damit auch an. War das eine Zeit des Aufbruchs auch in diesem kleinen Sinne für Frauen?
Veränderungen wirken auch bedrohlich
Woelk: Ich glaube, die Mütter der 60er-Jahre sind eine sehr, sehr spannende Generation. Eigentlich haben die ja ihre Sozialisation und ihre Jugend in den 50er-Jahren verlebt, also einer Zeit, die sehr restriktiv, prüde, konservativ war und von ganz engen Rollenmustern geprägt.
Als es dann Ende der 60er-Jahre durch die Studentenproteste zu einer Bewegung der Befreiung kam, da war ja natürlich die Frage, wie geht denn aber diese Generation damit um? Die waren ja im Grunde genommen eigentlich zu alt und schon zu etabliert dafür.
Andererseits ging es ja bei der Befreiung in den späten 60er-Jahren auch ganz wesentlich um die Befreiung der Frauen, um die Emanzipation. Insofern hätten ja diese Mütter sich dem eigentlich sehr nahtlos anschließen können, aber so einfach war das eben nicht, weil sie auf der anderen Seite eben auch ja durch diese Veränderungen in ihrem bisherigen Leben auch bedroht oder zumindest eingeschränkt wurden.
Diese Freiheit sich einfach zu nehmen, sich dieser Bewegung anzuschließen, so einfach war es eben nicht.
Kassel: Das Spannende ist auch, dass nicht nur der Mann dieser Frau, der Mutter des Jungen, dass nicht nur der sehr ablehnend reagiert auf diesen Wunsch, zu arbeiten, nicht mal böse im Sinne von Verbot, er macht sich ja drüber lustig, nimmt das nicht ernst.
Fast genauso reagiert auch der neue Nachbar, also dieser scheinbar progressive linke Philosoph. Das heißt, zumindest auf Seiten der Männer waren auch die 68er damals gar nicht so sehr für Emanzipation?
Frauen in Rollenmustern gefangen
Woelk: Ja, ich frage mich gewissermaßen, ob nicht sozusagen die Tatsache, welche Geschlechtszugehörigkeit man hat, fast viel wichtiger ist, als welcher Ideologie man anhängt.
In gewissem Sinne glaube ich auch, dass die Geschichte, die ich erzähle, die ja nun 50 Jahre zurückliegt, trotzdem nach wie vor sehr, sehr aktuell ist.
Wenn man sich die Zahlen mal so ansieht, dann sind wir ja auch heute noch eigentlich in einer Situation, in der es letztlich die Frauen sind, die dann erst mal die Elternzeit nehmen oder später, wenn dann die Kinder so weit sind, in Teilzeit weiterarbeiten, während die Männer in Vollzeitstellen ihre Karrieren weiter voranbringen.
Insofern glaube ich, dass eben auch damals diese Geschlechtszugehörigkeit in den Rollenmustern, in denen man sich befand, fast viel entscheidender für das Selbstverständnis und auch für die gesellschaftliche Dynamik war als der behauptete Wunsch nach Befreiung und Emanzipation, wo natürlich auch die Männer gesagt haben, selbstverständlich wollen wir, dass sich die Frauen befreien. Aber in der Praxis sah es dann mitunter ganz anders aus.
Kassel: Es gibt Liebesgeschichten, sag ich mal, viel mehr verrate ich gar nicht, aber in verschiedenen Generationsebenen zwischen diesen dann neuen Nachbarn, und über allem, über dem Dramatischen … Es ist ein Sommer. Man darf nach diesem ersten Satz auch nicht sofort erwarten, es wäre alles dramatisch und negativ, das wird es am Ende.
Über all dem, über dem Positiven wie dem Negativen, schwebt wirklich immer diese Mondlandung. Die Leute treffen sich bei Verwandten, der Erste hat einen Farbfernseher, in dem man das sehen kann. Haben Sie das wirklich so in Erinnerung? Ich stell mir das so ein bisschen vor wie heutzutage eine Fußball-Weltmeisterschaft, die auf einem anderen Kontinent stattfindet: Man bleibt nachts wach, man ist irgendwo total dabei und irgendwo ganz weit weg.
Woelk: Ja, das war ja auch das Lustige. Man hat ja nie was gesehen. Es gab dann irgendwann die Bilder vom Mond, aber das meiste wurde immer aus dem sogenannten Apollo-Studio – das war, glaube ich, damals beim WDR – übertragen.
Aureole der Unbeschwertheit
Da waren 24 Stunden Sendung, aber das eigentlich Originalmaterial vom Mond sind ja nur 20 Minuten, sag ich jetzt mal, und das war ganz interessant.
Zum einen ist es natürlich als Autor meiner Generation ganz schön, sich auch literarisch dann an so etwas zurückzuerinnern. Natürlich umgibt die Zeit immer so eine gewisse Aureole der Unbeschwertheit, weil man war selber noch jung. Weswegen ich es aber glaube ich auch literarisch gewählt habe, ist nicht einfach nur aus Nostalgie, sondern: Die Mondlandung war oder ist bis heute eine herausragende technische Leistung.
Man muss sich das vorstellen, in hundert Jahren der Sprung von der Pferdekutsche zur Mondfähre. Das war Wahnsinn, das hat es vorher nie gegeben. Andererseits aber, in eben den Rollenbildern, in den gesellschaftlichen Zusammenhängen, war sozusagen die Zeit, ich möchte mal sagen, beinahe stehen geblieben, es waren immer noch die Rollenverständnisse von Anfang des Jahrhunderts zwischen Mann und Frau.
Deswegen sind die späten 60er-Jahre, finde ich, erzählerisch so wahnsinnig spannend, weil da eine absolute Moderne, technisch ausgereift mit allem, auf eigentlich ein sehr, sehr frühes oder noch sehr unausgereiftes Geschlechterverhältnis stößt, also eine sehr konservative Gesellschaft. Und das macht eine enorme Spannung aus.
Kassel: Der Junge in diesem Buch wird später als erwachsener Mann – das erfahren wir noch – tatsächlich Astrophysiker. Das haben Sie auch gemacht, Sie sind ja – so stelle ich Sie immer vor, wenn Sie hier sind – Schriftsteller und Astrophysiker. War bei Ihnen auch die Mondlandung ein Grund für diese Studien- und Berufswahl?
Woelk: Ich glaube umgekehrt. Ich war eben in der Tat immer schon von den Sternen begeistert, bekam dann auch irgendwann ein kleines Fernrohr geschenkt und konnte immer den Mond anschauen. Da steckt ja dann doch durchaus auch einiges von mir in diesem Erzähler.
Ich denke halt, dieses Interesse war immer da, und das hat mich auch dann zunächst einmal dazu gebracht, eben auch Physik und Astrophysik zu studieren und da dieser Leidenschaft – oder dieser Schwärmerei, kann man ja durchaus so sagen, die ich da als Junge hatte – auch nachzugehen.
Kassel: Also gut, wir fassen zusammen: Astrophysik, erste bemannte Mondlandung, 68er-Revolte, Enge und – und das ist nicht uninteressant für Menschen, die nur die Gegend um den Dom kennen – das Leben auf der rechten Rheinseite in Köln. Das und noch viel mehr im neuen Roman von Ulrich Woelk.
"Der Sommer meiner Mutter" heißt dieser Roman, und erschienen ist er gerade im Verlag C.H. Beck. Herr Woelk, ich danke Ihnen sehr, dass Sie bei uns waren.
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