Ulrike Ackermann: Das Schweigen der Mitte. Wege aus der Polarisierungsfalle
Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2020
206 Seiten, 22 Euro
Gegen die Abwertung anderer Realitäten
04:36 Minuten
Wie kommen wir aus der Polarisierungsfalle? Die Politikwissenschaftlerin Ulrike Ackermann hofft auf die Integrationskraft selbstreflexiver und allgemeinverständlicher Intellektualität.
Als 1962 Jürgen Habermas´ Habilitationsschrift "Strukturwandel der Öffentlichkeit" erschien, waren viele der gegenwärtigen Entwicklungen noch nicht zu ahnen. Trotz oder gerade wegen ihrer Kritik an einem mitunter allzu selbstgewissen linksliberalen Diskurs, der – ob nun zu Recht oder zu Unrecht auch mit dem Namen Habermas verbunden ist – setzt die Politikwissenschaftlerin Ulrike Ackermann, Direktorin des John Stuart Mill Instituts für Freiheitsforschung, in ihrem neuen Buch "Das Schweigen der Mitte" ebenfalls auf das Zivilisierende einer gesamtgesellschaftlichen Debatte.
Freilich führt der Untertitel "Wege aus der Polarisierungsfalle" ein wenig in die Irre, da ihre breit gefächerte Untersuchung eben nicht das Genre der gängigen "Man müsste jetzt…"-Ratgeberliteratur bedient. Es sind eher Wege in die Polarisierungsfalle, die hier nachgezeichnet werden, wobei nicht allein Deutschland im Fokus der Betrachtung steht. Vom veränderten Verhalten heutiger Mediennutzer über die Ausdifferenzierung der Mittelschicht bis zur Erosion der traditionellen Volksparteien wird hier ein weiter Bogen gespannt, jedoch kein Klagegesang angestimmt. Gerade Ackermanns nüchterner Ton garantiert Erkenntnisgewinn, da hier vermeintlich bereits sattsam bekannte Phänomene auf ihre (polarisierenden) Konsequenzen hin abklopft werden.
Geteilte Wirklichkeiten?
Das betrifft nicht zuletzt die Medienöffentlichkeit: "Blogs, ihre Fans und Follower schaffen immer weitere, sich selbst bestätigende Milieus im Netz, die sich kollektiv abschotten, uniformer werden und politischer Lagerbildung Vorschub leisten. Paradoxerweise sorgen daher die Gruppenbildung oder – zugespitzt – die Kollektivierungsprozesse im Netz dafür, dass die politische Vielfalt der Meinungen und Positionen schrumpft." Ähnliches gelte etwa auch für die Mittelschicht, in der längst nicht mehr vom Handwerker bis zum Hochschullehrer auf ein Minimum geteilter Lebenswirklichkeit zurückgegriffen werden könne.
Gerade weil dieser Prozess irreversibel ist und ein nostalgischer Blick zurück in eine angeblich heilere Zeit unsinnig, muss beschrieben werden, was längst mehr ist als nur ein Kollateralschaden dieser Entwicklungen. Ackermann sieht das gefährliche Dilemma in der Verabsolutierung der eigenen Erfahrung und der Abwertung anderer Realitäten: Was den einen die "abgehobenen Großstadt-Eliten", sind den anderen die "klima-ignoranten Dieselfahrer und Billigfleisch-Konsumenten". Sie schreibt: "Deshalb schnappt die Polarisierungsfalle zu, und sie greift so erbarmungslos, weil die Kontrahenten sich in ihrem Wunsch nach Eindeutigkeit, Reinheit der Position und beim Leugnen der Ambivalenzen gegenseitig noch befeuern."
Hordenbildung
Konträr zu den Mustern traditioneller konservativer oder progressiver Kulturkritik diagnostiziert Ackermann hier nicht etwa die "Atomisierung des Individuums" oder irgendeine "Entfremdung", sondern im Gegenteil die Zunahme von Gruppen-Identitäten, die entweder "ihr Heil in der ethnischen Homogenität der Volksgemeinschaft" suchen oder es sich in den Dogmen des Multikulturalismus bequem machen. "Zuweilen hat man den Eindruck, die Gesellschaft würde auf eine frühere Stufe ihrer Entwicklung regredieren, weg vom Ideal des autonomen, selbstbestimmten, aufgeklärten Individuums und wachen Staatsbürgers hin zum Stammesdenken und der Hordenbildung mit gefeierten Anführern."
Allerdings bleibt die Frage, ob ein möglicherweise daraus folgender Wunsch nach stets austarierten und antitotalitär gestimmten Staatsbürgern, die im Idealfall als Wähler zwischen CSU und Grünen changieren, nicht allzu realitätsfremd wäre. Wohl auch aus diesem Grund entwirft Ackermann keine Utopie, sondern verweist im Gegenteil auf jene Intellektuellen und skeptischen Liberalen, die keineswegs eine "versöhnte Gemeinschaft", aber doch eine säkular geprägte, zivil streitende, aber auch wehrbereite Gesellschaft angestrebt hatten – oder dies noch immer tun: Ralph Dahrendorf, Raymond Aron, André Glucksmann, Jeanne Herrsch, Pascal Bruckner, Odo Marquardt, Dolf Sternberger, Alice Schwarzer oder Necla Kelek.
So ist dieses stilistisch wohltuend nicht-prunkende Buch auch die freundliche Einladung, in ein Gespräch mit eben diesen Autoren und Autorinnen zu treten und sich mit deren Betrachtungen und Argumenten vertraut zu machen, ohne sie gleichzeitig uniform übernehmen zu müssen.