Ulrike Draesner über Frauenfiguren in der Literatur

"Patriarchale Traditionen sind nicht leicht abzuschütteln"

09:32 Minuten
Schriftstellerin Ulrike Draesner sitz auf einem Podium und spricht zum Publikum.
Ulrike Draesner: "Das fängt ja schon mit unserer Idee über den Erzähler an. Im Deutschen ist das einfach ein Wort mit einem Gender und männlich." © imago/gezett
Ulrike Draesner im Gespräch mit Frank Meyer |
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Die Autorin Ulrike Draesner hat sich in ihrem Werk mit Virginia Woolf, Alter und Fehlgeburten beschäftigt. Im Zuge der reclam-Buchreihe „Klassikerinnen neu entdeckt“ sagt sie, dass viele dieser Themen auch heute noch keine adäquate Erzählstimme haben.
Frank Meyer: Eigenwillige und fesselnde Frauenfiguren, die werden aus der Literaturgeschichte herübergeholt zu uns ins heute, herübergeholt von bekannten Schriftstellerinnen der Gegenwart, das ist die Grundidee der neuen Buchreihe "Klassikerinnen" des reclam-Verlags. In der Reihe ist auch Virginia Woolfs Roman "Mrs. Dalloway" erschienen - mit einem Essay von Ulrike Draesner. Das ist in diesem Fall die Brückenbauerin in die Gegenwart.
Frau Draesner, der Roman begleitet Sie schon länger. Sie schreiben in Ihrem Vorwort zu "Mrs. Dalloway", dass Sie schon als Studentin über diesen Roman geschrieben haben. Können Sie sich denn noch an die erste Begegnung mit "Mrs. Dalloway" erinnern?
Draesner: Furios. Ich kann mich gut erinnern. Das war mein erstes Proseminar in der Anglistik, und ich wusste gar nicht, was für ein Ding mir da entgegenkommt, so viele verschiedene Stimmen. Da wird am Anfang umgeschaltet, plötzlich ist man bei Mrs. Dalloway, dann bei irgendwelchen Figuren, die später überhaupt nicht mehr vorkommen. Der Roman wechselt zwischen zwei Perspektiven, Mrs. Dalloway und ein junger 30-jähriger Mann, Septimus Warren Smith, der vom Krieg versehrt ist und eine posttraumatische Belastungsstörung hat, wie wie heute sagen würden. Ich weiß noch, ich habe damals eine Seminararbeit geschrieben mit dem Thema "Die Mitte von Mrs. Dalloway", weil ich diesen Roman immer irgendwie verankern wollte und bin glorios gescheitert. Es gibt keine Mitte, und ich habe keine gefunden.

Eine Schwarz-Weiß-Aufnahme zeigt die Autorin Virgina Woolf 1929. 
Die britische Schriftstellerin Virgina Woolf 1929.© imago/United Archives International
Meyer: Heißt das, es gibt auch keinen erzählerischen Kern, kein Thema, das man identifizieren kann, wenn es keine Mitte gibt?
Draesner: Es gibt kein einzelnes Thema, es gibt eine ganze Reihe von Themen und tatsächlich keinen erzählerischen Kern in dem Sinn, wie man das aus dem 19. Jahrhundert im Erzählen gewohnt wäre - win allwissender Erzähler, der uns führt. Sondern Virginia Woolf sagte mal über ihre Figuren, das 19. Jahrhundert hat immer die Figur hingestellt und dann mit Kleidern behängt von außen und Adjektive, braune Haare, blaue Augen oder solche Sachen drangehängt.
Sie hingegen baut ihre Figuren ganz anders: Sie nimmt einen kleinen Klumpen, ein Stück Sprache, eine Wahrnehmung und baut dann die Figur auf. Genau so ist "Mrs. Dalloway" geschrieben und wechselt zwischen den Figuren und zeigt Mrs. Dalloway in einem Tag, aber damit auch in ihrem ganzen Leben, in dem Erinnerungen eingebaut werden, Sorgen um die Zukunft. Das ergibt keine Mitte, sondern ein Netz, und diese Netzstruktur ist auch, was den Roman auch für heutige Zeiten so lesenswert und unglaublich modern macht.

"Oh, die Figur hat auf dich gewartet"

Meyer: Das ist ein Junimittwoch im Jahr 1923 in London, um das ein bisschen in der Zeit zu verankern. Jetzt sind Sie diesem Roman wieder begegnet. Sie haben vor Kurzem ja selbst ein Buch veröffentlicht über das Älterwerden, vor allem das Älterwerden als Frau, wie Sie das erleben. Jetzt begegnen Sie dieser älteren Mrs. Dalloway, die ist Anfang 50, glaube ich. Hat das jetzt Ihren Blick auf dieses Buch noch mal verändert, anders geprägt als damals, als Studentin?
Draesner: Ja, vollkommen. Damals war ich Anfang 20 und Mrs. Dalloway war alt, quasi im Alter meiner Mutter, und die Thematik, wie man mit 50 im Leben steht, hat mich nicht interessiert. Mich haben die handwerklichen Aspekte interessiert und wie bei "Mrs. Dalloway" die Sexualität dargestellt wird.
Jetzt lese ich das wieder und habe eine ganz andere Identifikationsbasis. Es hat auch was Berührendes, wenn man 30 Jahre nach der ersten Lektüre wieder in ein Buch schaut und bemerkt, oh, die Figur hat auf dich gewartet, die ist nicht älter geworden. Ich finde sowas tröstlich, und sehe auch, Mrs. Dalloway war krank. Ich habe jetzt noch mal recherchiert: Es gab eine große Grippewelle in London nach dem Krieg und sie hatte wahrscheinlich diese Grippe, hat Herzproblematiken und steht an einer Schwelle im Leben, die sehr typisch für dieses sechste Lebensjahrzehnt ist.
Das Kind ist fast erwachsen, und welche Beziehung zu seinem Partner fühlt man, und wie geht man damit um, dass einfach viele Dinge im Leben entschieden sind, wie erzählt man sich seine eigene Geschichte. Sie zieht ja eine Art Summe, was ist aus der Frau von damals geworden. Das fand ich sehr interessant in dieser doppelten Spiegelung. Einiges, was die körperliche Konstellation angeht, betrifft einen ja weiterhin. Andere Dinge, was die Frauenmöglichkeiten angeht, haben sich zum Glück geändert. Sie denkt ja auch darüber nach, was es eben heißt Mrs. Clarissa Dalloway zu sein oder gar Mrs. Richard Dalloway, also so völlig unter der Kuratel eines Mannes zu stehen und nur diesen kleinen Heimbereich zu haben, in dem sie sich eigentlich entfaltet und sich entfaltet als Gastgeberin.

Fontane schreibt über die Zersetzung von Normen

Meyer: Das Buch gehört zu einer neuen Reihe, die versucht, die historischen Autoren ins Heute zu holen, vor allem die Frauenfiguren auch ins Heute zu holen. Wenn wir mal vergleichen oder Sie vergleichen, Theodor Fontane, der berühmte "Effi Briest"-Roman erscheint jetzt auch in dieser Reihe neu mit einem Nachwort von Nora Gomringer. Wenn Sie sich anschauen, wie ein Mann wie Fontane über eine Frau schreibt und eine Frau wie Virginia Woolf über eine Frauenfigur schreibt, gibt es da auffallende Unterschiede?
Draesner: Es gibt auffallende Unterschiede, die aber nicht nur mit dem Geschlecht und dem Gender der Autoren, Autorinnen zu tun haben, sondern auch mit der Zeit. Das sind ja fast 30 Jahre, die dazwischenliegen, in der Entstehungszeit, da liegt ein Weltkrieg dazwischen. Das 19. Jahrhundert ist einfach wirklich zu Ende gegangen. Ich finde auch, dass im Erzählerischen eine Linie von "Effi Briest" zu "Mrs. Dalloway" führt. In der üblichen Einordnung wird Fontane ja gerne als Vorläufer von Thomas Mann gesehen, ein realistischer Autor, und er schreibt einfach auf, was damals quasi Sache war – Untreue in der Ehe, Duell Ehemann-Liebhaber, Liebhaber tot, Frau unglücklich und auch bald tot.
Das stimmt aber nicht. "Effi Briest" ist eigentlich ein prämoderner Roman und hat etwas gemeinsam mit "Mrs. Dalloway". Auch Fontane erzählt in ganz vielen Stimmen, benutzt ganz viele verschiedene Formen, und interessant an Fontane, an "Effi Briest" – das wurde mir jetzt nochmal deutlich – ist eigentlich die zeitliche Diskrepanz.


Was Fontane dabei beschreibt, dieses Umgehen mit der Ehebrecherin und auch das Duell, das sind eigentlich Formen, die im Jahr 1892 oder '94, wann der Roman erscheint, gar nicht mehr so gelebt werden, und spannend auch, wenn man seine Biografie ansieht, in seinem Familienumfeld – er hatte ja vier Kinder –, die leben doch ganz andere Leben. Sein erfolgreichster Sohn, der einen Verlag gegründet hat, hat ein uneheliches Kind und hat die Frau für eine junge Geliebte verlassen, ist wieder zu der Frau zurückgekehrt. Das ist das Umfeld, in das hinein er schreibt, und eigentlich schreibt er über die Zersetzung dieser Normen, die er noch einmal inszeniert, und diese Umbruchssituation, das teilen auch beide Bücher.
Der Schriftsteller Theodor Fontane in einer zeitgenössischen Darstellung.
Der Schriftsteller Theodor Fontane in einer zeitgenössischen Darstellung.© picture-alliance/dpa

Experimente mit der Erzählstimme ist ein großes Thema

Meyer: Wenn wir mal einen kühnen Sprung machen ins Heute, wenn Sie sich anschauen, wie heute Frauenfiguren angelegt werden, würden Sie sagen, das ist jetzt heute ganz, ganz anders als bei Woolf oder Fontane, oder gibt es da doch starke Linien, die das miteinander verbindet?
Draesner: Ich würde gerne sagen, das ist ganz, ganz anders. Aber was sich eben zeigt: Jahrhunderte alte patriarchale Traditionen sind nicht so leicht abzuschütteln. Das fängt ja schon mit unserer Idee über den Erzähler an. Im Deutschen ist das einfach ein Wort mit einem Gender und männlich, und 1991, ich erinnere mich, erschien Janet Wintersons Roman "Written On Her Body", und das war der erste Versuch, eine Erzählstimme zu etablieren, die man nicht zuordnen kann, weder einer sie noch einem er. Scheitert aber, weil hinten herum doch klar wird, dass es eine Frau ist.
Diese Experimente werden ja immer noch weitergeführt. Das ist ein großes Thema. Ich sehe das auch bei den jüngeren Autorinnen. Ich denke jetzt an das Buch von Ali Smith, "Beides sein", "How to Be Both", wo wirklich ausprobiert wird im Erzählen, was es bedeutet, eine Figur von heute zu sein, vielleicht aber auch eine Figur aus dem 16. Jahrhundert und zwischen den Geschlechtern zu stehen.
Meyer: Treibt Sie dasselbe um für Ihr Schreiben - dieses Nachdenken, wie beschreibe ich Frauen, dass ich aus diesen Mustern herauskomme?
Draesner: Unbedingt. Es gibt noch immer so viele Themen, die Frauenkörper angehen, die im Rückblick über die literarischen Traditionen hinweg eigentlich sprachlos waren und immer noch sprachlos geblieben sind. Ich habe 2001 einen Gedichtzyklus über eine Fehlgeburt veröffentlicht, das ist eines der Themen.
Das andere ist das Buch "Eine Frau wird älter". Zwar gibt es medizinische Ratgeber über die Wechseljahre. Aber es fehlt eine andere Art des Nachdenkens über die kulturellen, sprachlichen, philosophischen Bedingungen, in denen dieses Alter überhaupt stattfindet. Oder es sprießt ein bisschen, aber das Feld ist nicht gut bestellt. Und auch die literarische Tradition in Deutschland, dass man mehr Texte von Frauen noch mal veröffentlicht oder viel selbstverständlicher einfach auch immer in der weiblichen Form spricht, das muss dringend geschehen, das ist überfällig, das treibt mich um, das praktiziere ich auch.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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