Erlaubt sind Badehose, Schwimmbrille und Vaseline
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Von Dover nach Calais schwimmen – im neuen Roman von Ulrike Draesner wagt ein älterer Mann dieses Abenteuer. Für "Kanalschwimmer" hat die Autorin vor Ort recherchiert und gelernt, worauf es in 17 Grad kaltem Wasser ankommt.
Joachim Scholl: "Separate Waves", getrennte Wellen – was die Band Some Sprouts gerade intoniert hat, trägt uns hier in der "Lesart" im Deutschlandfunk Kultur flott zu einem anderen kühlen Nass, zum neuen Roman nämlich von Ulrike Draesner. Sie ist im Studio, vielfach preisgekrönte Schriftstellerin für ihre Lyrik und Prosa, seit Jahrzehnten nun schon stetig an Deck der deutschen Literatur, die Kritik liebt sie inniglich seit Beginn, wir auch. Guten Morgen, Frau Draesner!
Ulrike Draesner: Guten Morgen!
Scholl: Ein englischer Naturwissenschaftler, Charles, Anfang 60, Gelehrter in Oxford, bekommt die fatale Message, dass seine Ehefrau Maude hinfort mit einem Jugendfreund zusammen sein will, und auf dieses unzumutbare Angebot einer Ménage-à-trois reagiert Charles mit besonderem Trotz, jetzt erst recht will er seinen lang gehegten Plan wahr machen, den Ärmelkanal zu durchschwimmen. Das ist das Thema, kurzgefasst, von "Kanalschwimmer", Ihrem Roman. Erotische Verwirrspiele, die kennen wir aus etlichen Ihrer Werke, Frau Draesner, aber dass Sie einen Helden derart nass machen, das ist doch schon mal was anderes. Wie kamen Sie denn dazu?
Draesner: Das ist eine wirkliche Zumutung, und manchmal werde ich gefragt, ob ich selbst eine begeisterte Schwimmerin bin. Bin ich. Aber durch den Ärmelkanal würde ich auf keinen Fall schwimmen wollen: 17 Grad, Wellen, Schmutz, Fähren – das ist wirklicher Extremsport. Charles erlebt eine Krise, sucht eine Lösung, vielleicht auch einen Moment Erlösung. Er war ein Langstreckenschwimmer in seiner Jugend und versucht sich sozusagen über seine eigene Lage klarzuwerden, indem er sich ein Jahr lang auf diesen "Swim" vorbereitet. Das erzählt der Roman nur ganz kurz, wir sind eigentlich mit ihm im Wasser und folgen diesem Selbstversuch.
Recherche vor Ort in Dover
Scholl: Aber diesen "Swim", Frau Draesner, den schildern Sie so detailliert, als seien Sie selber im Wasser gewesen oder wenigstens im Begleitboot. Waren Sie das?
Draesner: Nein, war ich auch nicht. Ich bin überhaupt nicht sonderlich seefest. Und in so einem Begleitboot würde ich wahrscheinlich ganz wenig sehen, viel weniger als wenn ich mir Filme dazu ansehe – das war ein Teil der Recherche. Aber ich bin natürlich auch nach Dover gefahren. Ich habe mit Schwimmern gesprochen, über die Faszination des Wassers, und mit den sogenannten "Pilots". Das sind meistens eigentlich Fischer, die im Sommer diesen Dienst anbieten, ein Boot zur Verfügung stellen, eine kleine Ausbildung in Lebensrettung haben und den Schwimmer begleiten. Die kennen natürlich ganz viele Fälle, viele Geschichten.
Und der Rest ist das, wovon Schriftsteller schon immer gelebt haben: Man nennt es Empathie, Vorstellungsvermögen, Faszination natürlich auch: Was ist das, dieses Wasser? Wie sieht die sogenannte "Natur" aus? Das war einer der Aspekte, die mich an diesem Thema gereizt haben: Worte zu finden für die verschiedenen Wetter über dem Wasser, für den Himmel, Tag und Nacht. Er schwimmt ja über 24 Stunden am Ende. Wirklich, man kann dann da drin sein. Ich meine, Literatur hat den großen Vorteil, dass man Dinge erlebt, die man sich im realen Leben nicht zutraut. Zum Glück muss ich also nicht schwimmen.
Scholl: Auf jeden Fall hat man selber das Gefühl, man ist eingeschmiert mit irgendeiner Fettschicht und ist in diesem kalten Wasser. Bleiben wir noch ein bisschen beim Thema, weil es einfach so interessant ist, Frau Draesner. Ich habe ganz viel gelernt aus diesem Buch. Ich wusste gar nicht zum Beispiel, dass es eine eigene Gesellschaft gibt, oder sogar zwei: die "Channel Swimming Association", die im Jahr rund 80 solcher Kanalüberquerungen begleitet. Das ist eine richtige Branche.
Draesner: Ja, das ist aber immer noch weniger als Menschen auf den Mount Everest gehen. Das Ganze geht zurück auf Captain Webb, der im 19. Jahrhundert sozusagen zum ersten Mal auf diese Weise den Kanal durchschwommen hat, also ohne jegliches Hilfsmittel. Erlaubt ist eine Badehose, keine Schwimmflossen, eine Schwimmbrille, und man darf sich mit Vaseline einschmieren. Sonst darf gar nichts sein. Und weil man das nicht aushält, man kann nicht so lange schwimmen, ohne Nahrung zu sich zu nehmen, wird man vom Boot aus noch gefüttert. Man darf aber nicht mal die Stange, an der einem dieses Futtersäckchen gereicht wird, berühren, sonst wird man disqualifiziert. Also es ist wie eine sportliche Disziplin, aber wirklich der extremen Art. Es ist auch gefährlich. Fast jedes Jahr stirbt jemand bei einer dieser Überquerungen.
Gefährliche Strömungen im Ärmelkanal
Scholl: Regel Nummer eins lautet: "The channel is not your friend." Was ist denn so besonders gefährlich an dieser Wasserstrecke im Ärmelkanal?
Draesner: Sie ist so schwierig wegen der Kälte und weil die Strömungen so stark sind. Es gibt eine sehr hohe Tide, und da gibt es gegensätzliche Strömungen. Man kann da auch gar nicht geradeaus durchschwimmen. Man muss so einen doppelten S-Bogen schwimmen, um auf der gegenüberliegenden Seite überhaupt jemals anzukommen.
Scholl: Kommen wir mal zu Charles, dem Schwimmer. Man könnte ja ein bisschen platt interpretieren: Ein Mann in einer extremen Grenzsituation begibt sich gleich in die nächste. Das klingt erst mal nicht so sonderlich originell. Was hat Sie denn literarisch daran interessiert, auch an dieser Todesgefahr?
Draesner: Mich hat eigentlich die Verschiebung von Wahrnehmung interessiert. Das ist ja gar nicht primär die Todesgefahr, sondern die Erfahrung, so lange körperlich in so einem extremen Medium wie diesem kalten Wasser unterwegs zu sein. Was macht das mit dir? An welche Grenzen gerätst du? Wie gerätst du über sie hinweg? Was passiert mit der Wahrnehmung, mit der Zeitwahrnehmung zum Beispiel, die sich öffnet, die sich verschiebt, und auch mit Erinnerungen? Was taucht tatsächlich auf, gibt es sozusagen das große Eintauchen, die große Erkenntnis aus der Vergangenheit oder nicht? Charles hofft eigentlich darauf, ich verrate jetzt nicht, ob sie stattfindet.
Was passiert, wie geht man mit Überraschungen um – das war die andere Frage. Das habe ich gelernt in der Recherche, man plant so gut man kann. Aber eigentlich ist so eine Kanalüberquerung nicht wirklich planbar. Du kannst das Wetter nicht genau planen, es kann sich ganz schnell ändern. Du begegnest Dingen in diesem Wasser, die auch nicht geplant sind. Alle haben bestätigt, man lernt etwas über sich selbst, was man auf andere Art und Weise nie erfahren hätte.
Durch das Meer in ein anderes Leben
Scholl: Wir durchschwimmen mit diesem Charles zugleich seine Biografie, speziell drei Sommer in den 1970er-Jahren, "Summers of Love" könnte man sagen, als diese drei, Charles, Maude und der neue Dritte, Silas, jung und noch zu viert waren, Maudes Schwester Abigail war noch mit von der Partie, sie war zunächst die Freundin von Charles, sie stirbt dann durch einen Unfall. Das ist so eine Art Wahlverwandtschaftskonstellation, so über Kreuz, vier Personen?
Draesner: Nein, für mich ist das so eine 70er-Jahre-Konstellation. Die sind gar nicht über Kreuz, die sind eben alle vier miteinander beschäftigt. Und das ist ein ganz anderes Kollektiv. Auch das Eifersuchtsproblem taucht eigentlich in dieser Anfangszeit nicht wirklich auf. Es gibt Kreuz- und Quer-Verbindungen, und die Frage ist ja, wie man so eine Nähe, die Freundschaft ist, die Liebe ist und alles Mögliche dazwischen, wie sich so etwas durch die Jahrzehnte bewegt.
Das war auch eines der Themen, die mich interessiert haben: Was heißt es eigentlich, so eine lange Ehe zu führen, wie Maude und Charles das tun, und so etwas als Beziehung lebendig zu halten und mit den ständig neuen Herausforderungen umzugehen? Charles hat sich eigentlich gedacht, er setzt sich zur Ruhe und alles geht glatt weiter. Und seine Frau macht ihm da klar, so wird es nicht weitergehen, es gibt ja auch andere Lebensmodelle, eigentlich herauszukommen aus den Prokrustesbetten. Dafür ist natürlich auch der Kanal ein Bild, weil man eigentlich spürt – und das passiert ja auch mit Charles. Man ist dann dieser Körper in dieser großen Wasserfläche. Unter einem ist Tiefe, es ist ein alter Untergrund unter einem (…) der Himmel ist riesig. Plötzlich treten auch ganz andere Fragen, auch metaphysische Fragen in den Raum.
Scholl: Tja, und schafft er es, der Charles, oder nicht? Ich muss ja sagen, dass diese Frage mich genauso gefesselt hat wie sein Beziehungswirrwarr, ob er das nun mit Maude und Silas auf die Reihe kriegt. Beides dürfen wir natürlich keinesfalls verraten. Ulrike Draesner, wussten Sie eigentlich von Anfang an, wie es ausgeht, oder sind Sie auch einfach erst mal losgeschwommen?
Draesner: Ich hatte die Idee zu diesem Buch irgendwie um das Jahr 2000, und es war immer klar, da ist ein älterer Mann im Wasser und schwimmt durch diesen Kanal. Ich wusste lange Zeit nicht, warum er im Wasser ist, und vor allen Dingen wusste ich nicht, wie es ausgehen soll. Erst als mir klar wurde, dass es da nicht nur zwei Enden gibt, nämlich sozusagen die Alternative: Kommt er an oder nicht? Sondern dass es eigentlich drei mögliche Ausgänge bei so einer Geschichte gibt; Also kommt er an oder kommt er nicht an – das spaltet sich aber noch mal: Wenn man nicht ankommt, wird man zum Beispiel wegen von dem Schiffsführer Erschöpfung aus dem Wasser geholt und auf dem Schiff zurückgefahren? Dann hat man überlebt. Aber es gibt eben auch die dritte Möglichkeit, vielleicht nicht anzukommen, weil plötzlich jemand untergegangen ist.
Scholl: Mit diesen drei Möglichkeiten schicken wir jetzt Leser und Leserinnen in die Buchläden. Ich selber bin ja schon nach drei Bahnen im Stadtbad Neukölln aus der Puste. Jedenfalls sollte jeder, der einen "Channel-Swim erwägt" diesen Roman zum Training mitnehmen!
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