Ulrike Kolb: "Erinnerungen so nah"
Wallstein Verlag, Göttingen 2021
222 Seiten, 20 Euro
Ein autobiografisches Geschichtsbuch
06:50 Minuten
Im kommenden Jahr wird Ulrike Kolb 80 Jahre alt. In „Erinnerung so nah“ schaut die Schriftstellerin zurück auf die eigenen Jahre des Werdens – und damit auf die der Bundesrepublik vom westdeutschen Wirtschaftswunder bis zur Nachwendezeit.
Mit dem Tod der Mutter beginnt der Erinnerungsstrom. "Seitdem taumele ich darin herum, als hätte sich die Schwerkraft aufgelöst." Die Autorin ist überrascht vom Schmerz und von ihrer Trauer, die Mutter war sehr alt, die Krankheit fortgeschritten und das Verhältnis zwischen den beiden eher kompliziert. Aber im Angesicht des Todes lösen sich alle Vorbehalte und Entfernungen. Plötzlich ist die schöne Mutter, sind deren psychotische Schübe ganz gegenwärtig.
Ulrike Kolb erzählt von ihrem wohlhabenden Elternhaus, dem wirtschaftlichen Aufschwung in der jungen Bundesrepublik, von Reisen nach Paris und in die Schweiz.
Ein Traumpaar scheinen die Eltern, frankophile Saarländer, elegante Menschen. Aber wie in allen Familien gibt es hinter der Fassade Risse, die das Kind früh spürt. Der Vater versinkt häufig in Melancholie, die Geschäfte gehen schlechter, die Mutter flüchtet sich in Affären.
Die lesesüchtige Tochter ist zu schüchtern, zu wenig sportlich, erfüllt nicht die elterlichen Erwartungen. Das tut die jüngere Schwester, die aufgeschlossen und heiter ist. Aber sie nimmt in der Erzählung keine Gestalt an, bleibt schemenhaft.
Die Frauenbewegung wird wichtig
Es geht der Autorin nicht um eine umfassende chronologische Autobiografie, sie entwirft vielmehr Lebensreisestationen. Menschen tauchen auf, touchieren das Mädchen, später die junge Frau. Genaue Charakterzeichnungen oder psychologische Stimmigkeit sind nicht das Ziel, stattdessen: lebensprägende Stimmungen und generationentypische Entscheidungen.
Eine heftige Jugendliebe, die schmerzlich endet. Eine frühe unglückliche Ehe mit einem Juristen, der Aufbruch ins Wohngemeinschaftsleben, die alleinerziehende Mutter stürzt sich in die Studentenbewegung, Kinderladenexperimente, Gruppenleben auf dem Land, die kleine Tochter muss alle Emanzipationsaufbrüche mitmachen und aushalten. Und ihrer Mutter das später – wie viele dieser Kinderladenkinder – vorhalten.
In Frankfurt gehört Ulrike Kolb zur linken Bewegung, auch da sind es nicht die inneren Beweggründe, denen sie nachgeht, sie stellt sich nicht die Frage, warum bin ich da gelandet, was waren meine Antriebskräfte. Sie lebt und liebt wie so viele intelligente junge Leute damals lebten und liebten. Die Frauenbewegung wird wichtig.
Entfernung von der Linken
Die entscheidende Lebensspur ist jedoch die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. Die Frankfurter Ausschwitzprozesse hatten in der Familie, im Freundeskreis keine Rolle gespielt, erst später wird sie das Ausmaß der Schuld begreifen, die Entfernung von der Linken wird für Ulrike Kolb durch die Liebe zu und in Israel stattfinden.
Sie setzt sich mit linkem Antisemitismus auseinander, sie beginnt zu schreiben. Sie wird – das könnte das Motto dieses Lebensreiseberichts sein – erst in der Lösung vom Kollektiv zur eigenständigen Person.
Die Autorin schreibt uneitel, den Erinnerungen tastend folgend von den Jahren, die sie zu dem gemacht haben, was sie heute ist, sie wundert sich wie wir alle, wie schnell die Zeit vergangen ist, – und sie entwirft am Ende ein wunderbares liebessattes Bild ihrer späten und glücklichen Ehe. Eine Autobiografie und ein Geschichtsbuch (ein paar bekannte Namen weniger hätten dem Buch allerdings gutgetan), das die Bundesrepublik in all seinen Facetten lebendig werden lässt. Vom westdeutschen Wirtschaftswunder bis zur Nachwendezeit.