Ultraorthodoxe in Israel

Eine unterschätzte Bewegung und ihre Geschichte

14:53 Minuten
Orthodoxe Juden aller Altersklassen beim Kaparot-Ritual mit einem Huhn am 3. Oktober 2022 in der Stadt Bnei Berak, nordöstlich von Tel Aviv.
In der Stadt Bnei Berak bei Tel Aviv, in der vorwiegend ultraorthodoxe Juden leben, wird am Vorabend von Jom Kippur am 3. Oktober 2022 das Ritual Kapparot begangen. © Getty Images / Amir Levy
Von Felix Wellisch · 19.10.2022
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Bei der Staatsgründung Israels 1948 waren sie eine unbedeutende Minderheit. Aber die Gruppe der Ultraorthodoxen wächst und gewinnt zunehmend auch politische Macht. Gleichzeitig verändern sich auch die Haredim – trotz ihrer Abschottung von der Welt.
Nechama Fried zeigt in ihrer Wohnung in Jerusalem ein Fotoalbum ihrer Familie. „Das ist unsere Familie und da, das ist mein Vater. Er hat immer gelächelt.“ Ihr Vater, Sander Fried, überlebte als Jugendlicher – als einziger seiner 14-köpfigen Familie aus Ungarn – den Holocaust.
„Das ist die Hochzeit meines Sohnes. Das sind nur die wenigen Kinder, die zur Feier kommen konnten“, erzählt sie. Auf dem Foto sind rund 60 Menschen zu sehen. Viele der Männer tragen Bärte und lange Schläfenlocken. Nechama und ihre Familie gehören zu den Haredim – übersetzt, den “Gottesfürchtigen” – den strenggläubigen Juden in Israel.
Vom Balkon der Wohnung fällt der Blick auf das Viertel Kiriat Beltz im Westen Jerusalems.
Ein Enkel von Sander Fried hält ein Fotoalbum in der Hand.
„Es gibt heute ungefähr 650 Frieds": Ein Enkel von Sander Fried mit einem Fotoalbum der Familie.© Deutschlandradio / Felix Wellisch
Im Zentrum der Nachbarschaft thront eine gewaltige Synagoge, auf den Straßen tragen die meisten Männer schwere schwarze Mäntel, die Frauen lange Röcke und Kopftücher. Wie hier haben sich die Haredim vielerorts in Israel ihre abgeschlossenen Gemeinschaften aufgebaut.

Sobald wir uns mit den Leuten um uns herum vermischen, werden wir wie sie. Aber der Kern des Jüdischseins sind Schabbat und die Halachot, die religiösen Regeln. Wenn wir das vergessen, wenn es einen Riss in dieser Gemeinschaft gibt, dann zerfällt das alles.

Nechama Fried aus Jerusalem

Leben in abgeschlossener Gemeinschaft

Die Abschottung nach außen war jahrhundertelang in der jüdischen Diaspora – also bei Juden, die nicht in Palästina lebten – nichts Außergewöhnliches. Teils wurde sie von den Mehrheitsgesellschaften aufgezwungen, teils selbst gewählt.
So entstanden die ultraorthodoxen Haredim im Europa des 18. und 19. Jahrhunderts als Gegenbewegung zur jüdischen Aufklärung. Reformorientierte Jüdinnen und Juden wollten damals das jüdische Leben zu der sie umgebenden Gesellschaft hin öffnen und modernisieren.
Vielen Rabbinern und Gemeinden, besonders in Osteuropa, ging das zu weit.
„Für die Rabbis und eher konservativ eingestellte Juden fühlte sich diese Bewegung wahrscheinlich in etwa so an, als kämen plötzlich die Hippies und sagen: Wir brauchen die alten Regeln nicht mehr. Was lange als Maßstab für Gut und Böse gegolten hatte, brach zusammen. Für viele Menschen war das unannehmbar“, sagt Benjamin Brown.
Er ist Professor für jüdische Geschichte an der Hebräischen Universität in Jerusalem.
Thora zu studieren und ein Leben streng nach religiösen Vorschriften zu führen, vom koscheren Essen über die Kleidung bis zur Partnerwahl, das war damals wie heute für viele Haredim die wichtigste Säule ihrer Identität.

Misstrauen gegenüber zionistischer Bewegung

Als Theodor Herzl und seine Mitstreiter gegen Ende des 19. Jahrhunderts den Zionismus aufbauten, um einen jüdischen Staat zu schaffen, befeuerten sie das Misstrauen in vielen ultraorthodoxen Gemeinden weiter.
Herzl war tief in der europäischen Kultur verankert, besonders in der deutschen. Er stellte sogar einen Weihnachtsbaum auf. Ein wichtiger Rabbiner verdächtige ihn damals, die Idee eines eigenen Staates zu nutzen, um der jüdischen Identität eine nicht religiöse Grundlage zu geben. Manche gingen sogar so weit und sagten: Wir dürfen vor dem Kommen des Messias gar keinen jüdischen Staat gründen.
Der Historiker Benjamin Brown posiert vor einer Bücherwand für ein Foto.
Benjamin Brown ist Professor für jüdische Geschichte an der Hebräischen Universität in Jerusalem.© Deutschlandradio / Felix Wellisch
Als die Nazis in Deutschland die Macht übernahmen, entschieden sich viele Haredim in Europa gegen eine Flucht nach Israel – auch weil viele Rabbiner davon abrieten.

Viele warnten ihre Gemeinden, dass das Land Israel nicht sicher sei, auch in spiritueller Hinsicht. Dass ihre Kinder dort ihren Glauben verlieren würden. Als die Nazis nach Osteuropa kamen, war es für viele zu spät.

Benjamin Brown, Historiker

Auch die Familie Fried entschied sich, ihre Belzer Gemeinde in Szombathely in Ungarn nicht zu verlassen. „Sie dachten gar nicht dran zu gehen. Noch als der Krieg schon angefangen hatte, sind sie nach Italien gefahren, um Möbel zu kaufen“, erzählt Nechama Fried.
Im Mai 1944 kam die Gestapo und nahm Sanders Mutter und seine elf Geschwister mit. Der 17-Jährige beobachtete alles aus einem Versteck heraus.
„Er konnte nicht mitansehen, wie seine ganze Familie mitgenommen wurde. Er meldete sich selbst bei der Gestapo und kam nach Auschwitz. Er hat nur überlebt, weil er bis zuletzt arbeiten konnte“, sagt seine Tochter.

Bei Gründung Israels eine kleine Minderheit

Zur Staatsgründung Israels 1948 zählte die ultraorthodoxe Gemeinde in Palästina nur wenige Tausend Menschen. Der Gründer und erste Regierungschef des jungen Staates, David Ben Gurion, maß ihnen wenig Bedeutung bei.
„Ben Gurion hielt die Haredim für überholt. Er dachte, dass der jüdische Staat ein so großer Erfolg werden würde, dass sie früher oder später Zionisten würden. Er hat damit sehr falsch gelegen“, sagt Benjamin Brown.
Zudem verspielten die Staatsgründer Israels in den ersten Jahren viel Vertrauen.
„Orthodoxe Soldaten wurden bei der Armee verspottet oder konnten dort ihre religiösen Regeln nicht einhalten. Viele Neuankömmlinge in Israel wurden in Kibbuz-Siedlungen geschickt und gaben dort ihre religiöse Praxis auf. Es dauerte nicht lange und die Haredim verloren ihren Enthusiasmus für den jungen Staat“, erklärt der Historiker.
Während die Zionisten im ganzen Land neue Städte gründeten, begannen die Haredim, ihre eigenen Ortschaften aufzubauen. Bald zählten ihre Familien zu den kinderreichsten Israels.

Eine wachsende Bevölkerungsgruppe

„Es gibt heute ungefähr 650 Frieds. Mein Vater, als er noch am Leben war, hat fünf Generationen seiner Familie gesehen“, sagt Nechama Fried.
Benjamin Brown erklärt: „Die Haredim wollen das Gebot der Thora an Adam und Eva, sich zu mehren, wie alle religiösen Regeln mit Hingabe erfüllen. Und Sozialleistungen für kinderreiche Familien schufen lange auch einen wirtschaftlichen Anreiz.“
In den 70er- und-80er Jahren gewann diese wachsende Bevölkerungsgruppe zunehmend auch politische Bedeutung. Ein Schlüsselmoment: 1977 beendete der Konservative Menachem Begin die 30-jährige Vorherrschaft linker Parteien – mit Unterstützung der ultraorthodoxen Partei Agudat Israel.
Eine Hand hält ein Foto auf dem Sander Fried und seine Frau Nelly zu sehen sind.
Sander Fried und seine Frau Nelly: "Als er noch am Leben war, hat er fünf Generationen seiner Familie gesehen“, sagt seine Tochter Nechama.© Deutschlandradio / Felix Wellisch
Im Gegenzug erhielten die Haredim weitreichende Zugeständnisse wie etwa die Befreiung vom Wehrdienst für Thoraschüler, die heute jedes Jahr Zehntausende junge Haredim nutzen. Sorgen macht sich Professor Brown wegen des zunehmenden Einflusses der Ultraorthodoxen aber nicht.
„Viele Haredim interessieren sich noch immer zu allererst für ihre eigenen religiösen Angelegenheiten. Zudem hat auch das säkulare Israel weiterhin Machtzentren, etwa das oberste Gericht oder die Presse. Am meisten fürchten sich wahrscheinlich die Haredim selbst vor ihrem wachsenden Einfluss. Ein Land zu regieren ist etwas anderes als die eigene Nachbarschaft“, sagt der Historiker.

Wir dürfen nicht vergessen, dass die Zahl der jungen Haredim, die das religiöse Leben hinter sich lassen, stark zugenommen hat. Je mehr die Haredim die Gesellschaft beeinflussen, desto mehr wird die Gesellschaft auch sie selbst verändern.

Benjamin Brown, Historiker

Eine Stadt der Haredim bei Tel Aviv

Bekhadrei Charedim, so heißt eines der wichtigsten ultraorthodoxen Nachrichtenportale in Israel, hat seinen Redaktionssitz an der Grenze zwischen zwei Welten.
Auf der einen Seite des 36-stöckigen Hochhauses fällt der Blick auf die Wolkenkratzer der liberalen Metropole Tel Aviv. Auf der anderen Seite liegen die niedrigen, bescheidenen Wohnhäuser von Bnei Brak, dessen rund 200.000 Einwohner größtenteils zu den ultraorthodoxen Haredim gehören.
„Das ist eine orthodoxe Zeitung, ohne Fußball, ohne Sport, ohne Verbrechen. Warum? Weil es nicht möglich ist, auf ewig zu leben wie vor 100 Jahren, egal wie religiös du bist. Wenn wir nicht unsere eigene Zeitung haben, werden unsere Kinder die nicht-orthodoxen Zeitungen lesen“, sagt Yankee Farber.
Der Journalist mit weißem Hemd und schwarzer Kippa schreibt für „Bekhadrei Charedim“. Die ultraorthodoxe Welt verändert sich: Die Webseite erreicht ihm zufolge rund zwei Millionen Nutzer weltweit, auch weil heute rund zwei Drittel der israelischen Ultraorthodoxen Zugang zum Internet haben.
Steigende Lebenshaltungskosten zwingen auch strenggläubige Männer zunehmend, neben dem Thorastudium einer Arbeit nachzugehen. Und an der Überwindung eines weiteren großen Tabus hat Farber selbst mitgewirkt: 1999 absolvierte er als einer der ersten Strenggläubigen seinen Wehrdienst bei der israelischen Armee.

Die Welt der Ultraorthodoxen wandelt sich

Die Thoraschule und Tag und Nacht studieren, das war nichts für mich. Mein Vater hat Nein gesagt. Ich bin trotzdem gegangen und hatte lange keinen Kontakt zu meinen Eltern. Einmal habe ich drei Monate lang die Kaserne gar nicht verlassen, weil ich nicht wusste, wohin.

Yankee Farber, Journalist

Heute melden sich jedes Jahr einige Tausend Haredim zum Wehrdienst. Doch trotz der Veränderungen scheint es bei einem Thema kaum Bewegung zu geben: Noch immer haben Frauen bei den Ultraorthodoxen wenig zu sagen – obwohl sie in vielen Familien das Geld verdienen und die Kinder aufziehen.
Auf den Fotos und Videos bei „Bekhadrei Charedim“ sind überhaupt keine Frauen zu sehen. „Das wollen unsere Leser. Sie wollen keine Frauen sehen“, sagt Yankee Farber.
Dass diese Fassade nicht immer der Realität entspricht, weiß Esty Shushan. Die 45-jährige Ultraorthodoxe hat selbst lange für Haredi-Medien geschrieben. Heute lebt sie einige Kilometer weiter im Landesinneren in einer unauffälligen Neubausiedlung außerhalb der streng religiösen Welt.
„Als ich anfing, als Autorin für Haredim-Medien zu arbeiten, musste ich verstecken, dass ich eine Frau bin. Ich habe mich Aleph genannt“, erzählt sie. Erst später wurde Shushan klar, dass sie mit ihrer Erfahrung nicht allein war.
„Es gab damals einige Frauen in diesen Medien. Manchmal habe ich erst Jahre später herausgefunden, dass manche männliche Autoren eigentlich Frauen waren. Es gibt uns, aber ohne Namen, ohne Identität“, sagt sie.

Haredi-Frauen organisieren sich

Je mehr sie wusste, desto weniger wollte sie den Umgang mit Frauen in der ultraorthodoxen Welt akzeptieren. Als 2012 Parlamentswahlen in Israel anstanden, beschloss sie, etwas zu unternehmen.
„Wir haben im israelischen Parlament 16 Abgeordnete von Haredi-Parteien, keine davon ist eine Frau. Und auch in den Kommunalverwaltungen, es ist überall das Gleiche. Also habe ich eine Facebook-Seite eingerichtet und sie ‚lo nivcharot, lo becharot‘ genannt - keine Wahl, ohne gewählt zu werden. Ich habe Haredi-Frauen aufgerufen, nicht mehr für die ultraorthodoxen Parteien zu stimmen“, erzählt Esty Shushan.
Sie organisierte monatliche Treffen, bei denen Haredi-Frauen zusammenkamen, um über Politik zu sprechen, viele zum ersten Mal in ihrem Leben. Auch wegen der heftigen Reaktionen trauten sich nur nach und nach Mitstreiterinnen mit ihr an die Öffentlichkeit.

In den ersten Jahren waren wir die Verrückten. Einer der Rabbiner hat damals gesagt, Frauen, die Repräsentation wollen, bräuchten psychiatrische Behandlung. Einmal sind wir mit Flaschen beworfen worden, als wir Plakate aufgehängt haben.

Esty Shushan, Aktivistin

Die Nivcharot-Bewegung wächst

Auch für ihre Familie hatte ihr öffentlicher Auftritt Folgen. Ihre Kinder mussten die Schule wechseln, sie selbst lebt heute nicht mehr in einer ultraorthodoxen Nachbarschaft.
Trotzdem hat Shushan weitergemacht. Heute, zehn Jahre später, ist Nivcharot eine in Israel bekannte Organisation und Shushan regelmäßig zu Gast in Fernseh- und Radio-Programmen.
„Heute kommen junge Frauen zu mir und sagen: ‚Esty, ich habe dich im Radio gehört und ich wusste, dass der Tag kommen wird, an dem ich mich dir anschließe‘”, erzählt sie.
Eine halbe Autostunde nördlich schreibt Hassan Hila Lefkowitz in ihrem neuen Büro eine E-Mail. Die 41-Jährige trägt Make-up und das bei religiösen verheirateten Frauen in Israel übliche Kopftuch. Erst vor wenigen Monaten ist sie zur Leiterin des Religionsrates der Gemeinde Kfar Yona ernannt worden: ein Erfolg der Nivcharot-Bewegung.
Hila Lefkowitz posiert vor einer Ziegelwand für ein Foto.
Die Nivcharot-Treffen gaben ihr die Sicherheit, ihren eigenen Weg zu gehen, erzählt Hila Lefkowitz.© Deutschlandradio / Felix Wellisch
„Im ganzen Land gibt es 200 solcher Gemeinderäte, aber nur zehn davon werden von Frauen geleitet. Hier drüben ist das Büro des Rabbiners. Er ist für die religiösen Fragen zuständig, ich kümmere mich um das Management, aber wir arbeiten eng zusammen“, erklärt sie.

„Wir werden weitermachen“

Erst die Nivcharot-Treffen und zu sehen, dass sie als politisch interessierte Frau nicht allein war, hätten ihr die Sicherheit gegeben, ihren eigenen Weg zu gehen, erzählt Hila Lefkowitz.

Bis vor zwei Monaten hätte ich gesagt, es ist ein sehr schwerer Weg. Manche in meiner Familie sprechen nicht mehr mit mir. Aber jetzt, wo ich dieses Amt bekommen habe, weiß ich, dass es wert war, darum zu kämpfen.

Plötzlich wird es etwas Normales und für unsere Kinder wird es vielleicht einmal normal, dass Frauen für die Haredi-Parteien im Parlament sitzen.

Hila Lefkowitz, Politikerin

Für die Wahlen zur israelischen Knesset Ende Oktober ist Nivcharot bereits den nächsten Schritt gegangen:
„30 Frauen haben eine Erklärung unterschrieben, dass sie den Haredi-Parteien beitreten wollen. Vorher gab es keinen Druck, weil keine Frauen öffentlich ausgesprochen haben, dass sie Politik machen wollen, aber nun müssen sich die Parteien bewegen“, sagt Hila Lefkowitz „Natürlich ist es für diese Wahlen schon zu spät, um Frauen auf die Kandidatenlisten zu setzen, aber wir werden weitermachen.“
Auch wenn sich noch immer viele Ultraorthodoxe gegen jeden Wandel stemmen – ganz verschließen können auch sie sich nicht. Je weiter ihre Gemeinschaft wächst, desto mehr findet die Welt von außen doch ihren Weg hinein.
Israels Haredim werden die Zukunft des Landes prägen – aber wer sie bis dahin sein werden, ist offen.
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