Wenn ich es schaffen kann, trotz meiner Gefühle, trotz meiner Gedanken, da durchzukommen, dann schaffe ich vielleicht auch die Übertragung: In anderen Bereichen meines Lebens, genau dieses Prinzip wieder umzusetzen. Das würde ich sagen, dass das Laufen auch der Charakterentwicklung dienen kann.
Extremsport Ultratrailrunning
Laufen im Matsch: Beim Ultratrailrunning geht es unter anderem darum, die Komfortzone zu verlassen. © Imago / Ben Majerus
Laufen am Limit
23:11 Minuten
Ultratrailrunning gehört zu den neueren Trends beim Extremsport. Läufer rennen stundenlang querfeldein – über Steine und Felsen, durch Bäche und Schnee. Was treibt sie an, an ihr Leistungslimit zu gehen und sich bis zum Umfallen zu quälen?
Eva Maria Sperger ist ein Phänomen. Mitte 30 war sie bereits, als sie bei Trailwettkämpfen einstieg. Seitdem reiht sie Top-Platzierung an Top-Platzierung. Den Großglockner Ultratrail zum Beispiel lief sie 2019 in 16 Stunden - Streckenrekord! Mit 110 Kilometern Länge und 6500 Höhenmetern einer der härtesten Ultra-Marathons in Österreich. 2017 wurde sie Deutsche Meisterin im Ultratrail.
„Ich mag diese Art von Bewegung am Berg total gerne“, sagt sie. „Auch einfach runterlaufen, diese Geschicklichkeit und den Körper zu beobachten, wie der das schafft, manchmal. Man springt in irgendwelche Steine rein und der Körper kriegt das einfach hin, das umzusetzen, das fasziniert mich immer wieder.“
Als ehemalige Radrennfahrerin und Thaiboxerin verfügt Eva Sperger neben Ausdauer auch über den nötigen Gleichgewichtssinn, um auf unwegsamem Gelände schneller als andere unterwegs zu sein. Das Laufen am Berg steckte ihr schon in den Kinderschuhen.
Wechselwirkung von Körper und Seele
Geboren in Regensburg, wanderte sie mit den Eltern jeden Sommer in den Alpen. Später überquerte sie den Mont Blanc, machte regelmäßig Hochtouren am Großglockner. Mit dem Rennrad fuhr sie von Bayern nach Italien.
Wichtigste Voraussetzung für die Ultradistanzen im Trailrunning sind neben körperlicher Kraft und Ausdauer, Ehrgeiz und mentale Stärke.
Psychotherapeutin Eva Sperger weiß um die Wechselwirkung von Psyche und Körper. Wie also schafft sie es, gegen alle inneren Widerstände im Extremsport über ultralange Strecken so erfolgreich zu sein?
Da geht es um einen vorher getroffenen Entschluss, etwas zu Ende zu bringen, eine starke Selbstverpflichtung, erklärt die 42-Jährige. Gegen das Auftauchen von negativen Gedanken, Gefühlen, Körperreaktionen könne man nichts machen, sagt sie, das stünde nicht in unserer Macht, aber:
"Das Einzige, was ich unter meiner Macht stehend habe, ist Handeln. Handeln heißt: Ich kann essen, trinken, ruhig atmen und weiter Schritte machen. Dieses Durchziehenkönnen ist auch ganz stark verbunden mit der Fähigkeit, sich nur auf die Ausführung des Plans zu fokussieren.“
Laufen als eine Art Experiment
Das Handeln steht im Vordergrund, die Psyche zieht nach. Diese Erkenntnis sei lebensverändernd, ein Lebensrezept, sagt Eva, und das gebe sie jedem ihrer Patientinnen und Patienten gleich bei der ersten Therapiestunde mit.
Ein anderer Aspekt ist der Umgang mit Grenzen. Laufen ist für Eva eine Plattform, eine Art Experiment. Wie weit kann sie die Grenzen in ihrem Kopf verschieben?
Auch für Juliane Ilgert ist das Laufen zu einem Lebensmittelpunkt geworden. Erst kürzlich zog die 29-Jährige nach Garmisch-Partenkirchen, um näher an den Bergen zu sein. Dabei begann die im Sauerland aufgewachsene Juristin erst spät mit dem Traillaufen.
Zum Laufen kam sie während ihres Jurastudiums durch Kommilitonen, die sich gern draußen bewegten. Zehn Jahre ist das jetzt her.
Die Welt durch das Laufen entdecken
200 Gipfel, 34 Marathons und 19 Ultratrails in 15 Ländern auf vier Kontinenten hat sie bereits gemeistert. Und trotzdem zählt sich Juliane nicht zu den ergebnisorientierten, sondern zu den erlebnisorientierten Läuferinnen.
Durch das Laufen hat sie die Welt entdeckt, erzählt Juliane, und Abenteuer erlebt, die sie sonst nie erlebt hätte. Prägend war zum Beispiel ihr Lauf durch Afrika: der Trans Atlas Marathon. Das ist ein sechstägiger Ultra Marathon durchs Atlasgebirge in Marokko. Eine ganz andere Lauferfahrung für die 29-Jährige.
„Dort ist man wirklich in der Wildnis, für sechs Tage ist man ganz abgeschottet von allem“, erzählt sie. „Man hat nicht mal Handyempfang und man weiß, das fühlt sich jetzt wirklich nach Abenteuer an. Wenn hier irgendwas passiert, dann bin ich auf mich gestellt, und ich muss immer noch von A nach B finden, also die Orientierung ist auch nicht so leicht, in der Wüste startet das quasi und dann geht es ins Hochgebirge.“
Sie ist sie durch die Rocky Mountains gelaufen, durchs Kaukasusgebirge und über den Mount Fuji. Aber genauso gern bewegt sie sich über die Pfade deutscher Gebirgszüge. Denn was ihr beim Laufen am meisten gefällt, ist das „Raus aus der Komfortzone“ – auch wenn es mal wehtut.
„Das Leiden gehört halt dazu und das hat man im Alltag ja gar nicht mehr. Alles ist Komfort, wir leben wirklich so bequem“, sagt sie. „Dass man sich mal wieder schindet, das finde ich gut. Also, durch so einen kalten Fluss laufen zu müssen, das ist total unangenehm. Ich hasse das, aber danach weiß ich es auch wieder zu schätzen: Wenn ich in einem Büro sitze und es wohl temperiert ist und ich überall Essen bekomme und alles bequem ist. Dieses Leiden, das ist gut!“
Sport als Balance für den Alltag
Weg vom Konsum, hin zum Erleben. „Simplify your life“ – das ist Mario Wiericks Devise. Der Sport schafft für ihn eine Balance in seinem Alltag.
Für mich geht es darum beim Laufen: Das ist Sozialzeit, das ist Spaß für mich, das ist ja auch in gewisser Weise Freizeit und so ein bisschen wie Fernsehen in 3-D. Ich kann da immer so gucken und denke über viele Sachen nach – und oft geht es mir so: Ich bin dann noch gar nicht fertig mit Nachdenken, und dann ist halt der Lauf zu Ende.
Mario Wierick ist 52 und leitet ein Jobcenter in München. Objektiv sei er kein guter Sportler, meint Mario. Er isst ungesund, schläft zu wenig, trainiert ohne Plan. Aber er läuft unheimlich gern. 30 bis 40 Kilometer die Woche, mit Wettkämpfen 2500 Kilometer im Jahr. Am Laufen liebt er die Einfachheit, das Ungebundene. Man braucht dafür nicht viel und kann es überall tun, sagt er.
Zum Laufen kam er durch gesundheitliche Probleme: „Ich habe mir vor zehn Jahren überlegt, da hatte ich Bandscheibenprobleme, dass ich irgendwas regelmäßig tun muss. Ich habe damals zwei kleine Kinder gehabt: Immer mit diesem Heben aus dem Kinderbett, also mein Rücken war ziemlich hinüber. Nach drei schweren Bandscheibenvorfällen habe ich mir dann überlegt: Laufen ist relativ einfach, es ist unkompliziert.“
Der Transalpine Run als Partnerschaftstest
2014 lief er den Transalpine Run, genannt TAR, eine Alpenüberquerung von Deutschland nach Italien. Jeden Tag 30 bis 40 Kilometer laufen, mit mehreren Tausend Höhenmetern – und das in acht Tagesetappen. Das Schöne daran: Man läuft zu zweit im Team, sagt Mario Wierick.
„Da geht es also nicht darum, dass ich schnell bin oder meine Partnerin, mein Partner. Sondern dass wir uns gemeinsam so orientieren und absprechen, dass wir zusammen mit Spaß unverletzt und möglichst gut ins Ziel kommen“, erklärt er. „Und wenn ich jetzt viel Energie in Konflikte oder in Absprachen investieren muss, dann kostet mich das unheimliche Energie, die ich eigentlich ins Laufen investieren will. Das heißt also: Mit der Partnerwahl steht und fällt das Ganze.“
Es heißt, der Transalpine Run wäre ein guter Partnerschaftstest: Entweder man wird zusammengeschweißt – oder man trennt sich.
Laufen kann extremer Stress sein
Stundenlanges Laufen bergab kann extremer Stress sein. Für Gelenke wie für Muskeln. Bei jedem Schritt müssen sie ein Vielfaches des Körpergewichts auffangen. Je steiler der Abstieg, desto stärker die Belastung.
Walter Frey, Experte für Sportmedizin, etablierte die Sportmedizin an verschiedenen Schweizer Kliniken. Bis heute betreut er in seiner Praxis als Verbandsarzt viele Profisportler. Eine Schweizer Studie über Marathonläufer hat gezeigt, dass sie kaum mehr Gelenkschäden haben als Menschen, die nicht regelmäßig laufen.
Wie sich das allerdings bei Ultratrailläufern verhält, diese Frage ist noch nicht ausreichend erforscht. Sicher ist jedoch, dass ohne ein gezieltes Training die Verletzungsgefahr steigt, sagt Sportmediziner Walter Frey.
„Gerade beim Bergabrennen, wenn wir eigentlich fast im freien Fall mit dem X-fachen des Körpergewichtes landen, ist es ungeheuer wichtig für die Gelenke, dass sie ganz sauber stabil geführt werden“, erklärt er. „Und entsprechend ist es dann wichtig, dass die Rumpfmuskulatur speziell trainiert ist, dass wir hier ruhig bleiben im Becken und dass die Beine in sauberen Achsen arbeiten können – und so die Schläge besser verarbeiten.“
Athleten aus 56 Nationen beim Zugspitz Ultratrail
An einem sonnigwarmen Nachmittag im Zentrum von Garmisch-Partenkirchen: Am Richard-Strauss-Platz laufen die Vorbereitungen für den Zugspitz Ultratrail, auch ZUT genannt, auf Hochtouren. 3750 Athleten aus 56 Nationen haben sich angemeldet. Sie können wählen aus fünf Wettbewerben zwischen 25 und 108 Kilometer-Distanzen.
Juliane Ilgert hat sich ihre Startnummer bereits abgeholt. Zusammen mit ihrer Freundin Jeanette, die den ZUT das erste Mal mitläuft. Zum Einstieg die kleine Distanz, den sogenannten Basetrail über 25 Kilometer.
Gemeinsam wollen sie es entspannt angehen, erzählt Juliane: „Ich habe vor, dass wir uns auch unterhalten und dass wir auch mit Leuten quatschen. Es werden ja unglaublich viele Leute aus ganz Deutschland, ganz Europa anreisen, dass man ein paar Begegnungen hat, Gleichgesinnte trifft. Das ist ja im Sauerland auch gar nicht üblich, dass man Berg- und Trailläufe macht.“
Darauf freut sich auch ihre Freundin Jeanette. Seit fünf Jahren läuft sie, hat in dieser Zeit 30 Kilo abgenommen, ist jeden Tag draußen und fühlt sich so gut wie noch nie.
Nervös sei sie gar nicht vor ihrem ersten Lauf, sagt Jeanette, sie sei gut vorbereitet: „Gerade noch mal vom Physiotherapeuten gekommen, der ein bisschen eingerenkt hat. Rippen und Rücken, Zwerchfell auch noch bearbeitet, einmal rundum, einmal ein bisschen Schmerzen zugefügt.“
Erste-Hilfe-Sets für die Läufer
In der Fußgängerzone werden Erste-Hilfe-Sets an die Läufer verteilt. Das Nötigste im Kleinformat, passgerecht für jeden Rucksack, der zur Pflichtausstattung jedes Teilnehmers gehört:
„Dreieckstuch, Wärmedecke, Handschuhe, Mullbinden, Pflaster – das, was man halt braucht unterwegs, hoffentlich nicht. Auch noch so eine Pfeife hier, falls man mal irgendwo abstürzt und sich nicht mehr sonst irgendwie helfen kann.“
Ein Sicherheitscheck für alle Teilnehmenden
Auf Sicherheit legen die Veranstalter großen Wert. Alle Strecken werden durch Bergführer markiert, jeder Teilnehmer muss vor dem Start durch einen Sicherheitscheck. Ein aufgeladenes Handy gehört ebenso zur Pflichtausrüstung wie Wasserflaschen, Rettungsdecke und Regenjacke. Dazu kommt die medizinische Betreuung, sagt Jürgen Kurapkat vom Veranstalter.
„Wir haben ein großes Medical Team mit über zehn Leuten hier an Bord und wir haben zwei Verpflegungsstellen, wo die auch tatsächlich gecheckt werden“, erklärt er. „Der Doc checkt, ob die okay sind oder ob die da irgendwie schon im Delirium sind und nur denken: Immer weiter, weiter, weiter, aber schon gar nicht mehr bei Sinnen sind.“
Zehn Verpflegungsstellen auf der Strecke
Zehn Verpflegungsstellen sorgen auf der Strecke rund um die Zugspitze für die nötigen Kalorien zwischendurch, die letzte ist an der Eckbauer-Alm, in 1200 Metern Höhe. Hier kommen alle Athleten vorbei, froh über eine Erfrischung.
Bananen, Melonen, Orangen, Gurken und Tomaten liegen in mundgerechte Stücke geschnitten auf großen Platten bereit. Dazu belegte Brote und Blechkuchen. Aus großen Kanistern kann man Wasser, Cola und Iso-Getränke zapfen.
Was Läufer vor allem brauchen
Auch Marie gehört zu den Helfern. Sie weiß, was die Läufer am nötigsten brauchen: „Elektrolyte, Zucker, je nachdem, manche sind halt individuell was sie brauchen, und vor allem, dass die Leute auch stressfrei sich hier aufhalten können, dass sie ein bisschen umsorgt werden.“
Peter braucht vor allem Abkühlung. Er ist auf dem Basetrail XL, auf der 50-Kilometer-Distanz unterwegs, und es läuft nicht besonders gut für ihn.
Auch Wolfgang macht sich nicht gern Zeitdruck. Er gehört zu den älteren Teilnehmern, kommt aus dem Allgäu und trainiert drei- bis viermal die Woche. Wenn man regelmäßig was tut, kann man die Strecke gut bewältigen, sagt der 62-Jährige.
Am Traillaufen schätzt er vor allem die sozialen Kontakte: „Die Trailrunner, das ist eine besondere Familie, die sind sehr hilfsbereit. Das ist einfach schön. Man trifft immer wieder die Gleichen, wenn man mehrere so Trails macht.“
Während sie oben noch kämpfen, wird unten in Garmisch bereits gefeiert. Juliane und Jeanette sind entspannt ihre 25 Kilometer gelaufen, haben mit einem Lächeln die Ziellinie überquert.
Eva hat sogar bei ihrer 50-Kilometer-Distanz alle hinter sich gelassen.
Mario wird noch einige Stunden brauchen, bis er nach 108 Kilometer in den frühen Morgenstunden erschöpft, aber glücklich das Ziel erreicht. Angekommen ist er deshalb noch lange nicht – genauso wenig wie Eva, Juliane und viele andere Trailrunner.
Sie wollen in den Bergen unterwegs sein, auf der Suche nach immer neuen Wegen, nach immer neuen Abenteuern. Aber vor allem auf der Suche nach sich selbst, nach den eigenen Grenzen.