Umberto Eco: Pape Satàn. Chroniken einer flüssigen Gesellschaft. Oder: Die Kunst, die Welt zu verstehen
Carl Hanser Verlag, München 2017
220 Seiten, 20,00 Euro
Pointierte Kritik an der Empörungskultur
Ein Jahr nach seinem Tod erscheint eine Auswahl kluger Kolumnen Umberto Ecos zu den Unbilden unserer Zeit: von der Empörungskultur in den Sozialen Medien bis zum überbordenden Individualismus. Ein wichtiges Buch, meint unsere Kritikerin.
Ein bisschen ist es so, als würde uns der große italienische Zeichentheoretiker Umberto Eco aus dem Jenseits etwas zurufen. Man solle lesen, beobachten, sich vertiefen, nachdenken und bei Interpretationen die eigenen Codes reflektieren. Auf gar keinen Fall dürfe man der medialen Dauerhysterie auf den Leim gehen. Seine Invektiven kommen auf gewohnte Weise daher: mal komisch, mal provokativ, mal alarmierend, aber immer originell. Ein knappes Jahr nach seinem Tod erscheint jetzt ein Band mit "Streichholzbriefen", eine von seinem Übersetzer Burkhart Kroeber eingerichtete Zusammenstellung seiner Kolumnen aus dem römischen Magazin L'Espresso. In Italien kam das Buch, das im Titel einen komplett erratischen Ausruf des Unterweltgottes Pluto aus Dantes "Göttlicher Komödie" zitiert und damit auf jede Art von Teufelei abzielt, in dem 2015 von Eco mitgegründeten Verlag La Nave di Teseo heraus. Man könnte den Band als einen ultimativen Geniestreich des intellektuellen Kugelblitzes deuten, denn vor allem seine Medienkritik besitzt prophetische Qualitäten.
Früher verkündeten Dorftrottel ihre Erkenntnisse am Tresen
Früher verkündeten Dorftrottel und Hohlköpfe ihre Erkenntnisse am Tresen der Café-Bar und richteten weiter keinen Schaden an. Heute bietet ihnen das Netz einen grenzenlosen Resonanzraum. Die Tatsache, dass man von bestimmten Dingen etwas verstehen muss, um sich darüber äußern zu können, wird missachtet. Umberto Eco geht es dabei nicht um Hybris gegenüber denjenigen, die weniger wissen als er, im Gegenteil. Ein Salesianerpater, bei dem er Musikunterricht hatte, lehrte ihn schon als Dreizehnjährigen Demut.
Aus dem Ruder gelaufener Individualismus
Die neuen Telefone würden auch die Gehirne kultivierter Personen "mental entstellen", bemerkt Eco an anderer Stelle. Dabei sind es gerade die direkten Erfahrungen, die uns empfindsam für den Schmerz machen. Umberto Eco benutzt den Begriff der "flüssigen Gesellschaft" des Soziologen Zygmunt Baumann, der zu seinen Referenzgrößen gehört. Mit Baumann spricht er von einer Krise des Staates und einer Krise der Gemeinschaft: Ein aus dem Ruder gelaufener Individualismus, verknüpft mit einem bulimischen Kaufrausch, unterminiert das Gemeinwohl.
Die neue Empörungsbewegung
Daran anknüpfend, deutet Eco die neuen Empörungsbewegungen als eine typische Erscheinung der Gegenwart. Welche Möglichkeiten haben wir? Nur die, neue Instrumente zu entwickeln, um diese Entwicklungen zu begreifen und zu überwinden. Besonders allergisch reagiert der Zeichentheoretiker auf Verschwörungstheorien, die ja auch eine Art von Wirklichkeitsinterpretation anbieten. Eco deckt auf, dass die Wirkung oft entlastend ist, denn wer an diese Komplotte glaubt, muss keine Verantwortung übernehmen. Schuld ist dann nicht der Einzelne, sondern schuld sind dunkle Mächte, gegen die man ohnehin nichts ausrichten kann.
Auch der Kopfschleier im Koran und in der bildenden Kunst beschäftigt Eco. Er stellt sich die Frage, welche Funktion Hass entfalten kann, der sich nämlich, im Unterschied zur Liebe, viel leichter kollektiv entfachen lässt. Niemals hatten wir Umberto Ecos bildungsgesättigte Skepsis und leidenschaftliche Parteinahme für das Denken nötiger als heute.