David Lauer ist Philosoph und lehrt an der Christian Albrechts Universität zu Kiel. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Philosophie des Geistes- und der Erkenntnistheorie. Er lebt mit seiner Familie in Berlin.
Umgang mit dem Krieg
Nichtwissenwollen kann das Prinzip selbstbestimmter Lebensführung einerseits beschädigen, andererseits aber auch gerade zu dessen Schutz dienen. © Getty Images / iStockphoto / Zdenek Sasek
Warum Nichtwissen manchmal heilsam sein kann
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Ist es angesichts der täglichen Nachrichten vom Krieg in der Ukraine richtig, ja vielleicht sogar wichtig, ab und zu Abstand von der Welt zu nehmen und sich bewusst gegen Informationen zu entscheiden?
Wir, sechs Freundinnen und Freunde, saßen für ein paar freie Tage in einer ausgebauten Scheune in Brandenburg und genossen den endlos weiten Blick über die Felder bis zum Waldrand. Auf unseren Smartphones kündeten Push-Nachrichten im Minutentakt von neuen Kriegsgräueln in der Ukraine, von Tod, Zerstörung, Elend und Flucht. Wir versuchten, nicht hinzusehen. Wir wollten es nicht so genau wissen, nicht jetzt, in diesen kostbaren Stunden.
Was sind das für Zeiten, fragte Bertolt Brecht, wo ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist, weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt? Aber ist es ein Verbrechen? Ist es Pflicht, der harschen Wirklichkeit ins Auge zu sehen, immer, jederzeit? Oder darf man sich auch einmal dafür entscheiden, das Schreckliche zu ignorieren, es nicht wissen zu wollen?
Angst vor dem Wissen
Menschen wollen alles Mögliche nicht so genau wissen, obwohl oder vielmehr gerade weil es sie selbst betrifft. In der Philosophie stand das willentliche Nichtwissen lange Zeit in einem schlechten Ruf.
Der Grund ist klar: Schon Sokrates erklärte, allein das vernünftig reflektierte, das selbstbestimmt geführte Leben sei lebenswert. Eine Person, die ihr Leben selbstbestimmt führen will, braucht aber Wissen, um die richtigen Entscheidungen treffen zu können. Sie würde sonst nicht nur andere, sondern auch sich selbst schädigen, weil sie Dinge täte, die sie vor sich selbst niemals rechtfertigen könnte, wenn sie um deren Folgen wüsste.
Unbedingtes Wissenwollen ist also aus dieser Sicht ein Gebot der Selbstachtung, mutwilliges Nichtwissenwollen hingegen stets ein Zeichen der Schwäche: Wenn es beispielsweise um die ökologischen Folgen unseres Lebensstils geht, ziehen wir es vor, nicht so genau hinzusehen, weil wir Angst haben – Angst vor der hässlichen Wahrheit über uns selbst, Angst vor den unbequemen Konsequenzen, die wir aus dieser Wahrheit eigentlich zu ziehen hätten.
Überwältigt vom Wissen
Inzwischen wird in der Philosophie allerdings zögerlich anerkannt, dass willentliches Nichtwissen manchmal auch geboten sein kann.
Das hat viel mit der veränderten Ökonomie des Wissens zu tun. Wir leben in einer Welt, in der Wissen kein seltener Schatz mehr ist. Es wird vielmehr in solch unüberschaubaren Mengen und in solch aberwitziger Geschwindigkeit generiert, dass es die Fähigkeiten des Einzelnen, wohlüberlegte Entscheidungen zu treffen, zu überwältigen droht. In einer solchen Welt kann das gezielte Ignorieren verfügbarer Informationen ebenso verantwortungsvoll sein wie das Streben nach Wissen.
Ab einem bestimmten Punkt führt die weitere Ansammlung von Wissen nicht mehr zu einer Verbesserung verantwortlicher Selbstbestimmung. Wir wissen nicht alles, aber genug. Das obsessive Konsumieren immer neuer Schreckensmeldungen hingegen – das sogenannte doomscrolling – kann die Handlungsfähigkeit vollkommen lähmen und am Ende sogar zu der fatalistischen Entschuldigung verführen, man könne ja sowieso nichts tun.
Kraft tanken fürs Engagement
Nichtwissenwollen kann also das Prinzip selbstbestimmter Lebensführung einerseits beschädigen, andererseits aber auch gerade zu dessen Schutz dienen. Es kommt darauf an, welches Motiv dahintersteht: Flucht aus der Verantwortung oder die Bewahrung der eigenen Handlungsfähigkeit. Leider haben wir das Problem damit nur verschoben, denn häufig genug ist nicht klar, welches dieser Motive uns wirklich leitet.
Um das herauszufinden, müssen wir wissen wollen, warum wir etwas nicht wissen wollen. Oder wollen wir genau das – nicht wissen? Gibt uns das Wochenende im Grünen die Kraft, gegen den Krieg zu demonstrieren, uns für Geflüchtete einzusetzen? Oder hilft es uns nur dabei, ihr Leid dauerhaft auszublenden? Die Antwort darauf finden wir nicht in weiteren Entdeckungen oder Erkenntnissen. Wir geben sie selbst: durch Entschlossenheit und Engagement – oder deren Mangel.