Sieglinde Geisel, 1965 im schweizerischen Rüti/ZH geboren. Sie arbeitet für verschiedene Medien als Literaturkritikerin, Essayistin und Reporterin und betreibt das Blog "tell review - literatur und zeitgenossenschaft". Buchpublikationen: "Irrfahrer und Weltenbummler. Wie das Reisen uns verändert" (2008) und "Nur im Weltall ist es wirklich still. Vom Lärm und der Sehnsucht nach Stille" (2010).
Schluss mit ernst nehmen!
Angesichts des AfD-Erfolgs bei der Bundestagswahl plädieren viele dafür, die Partei endlich ernst zunehmen. Das, meint Journalistin Sieglinde Geisel, sei genau die falsche Reaktion: Ihren Tabubrüchen die Aufmerksamkeit zu verweigern, ließe die Scheinriesen schnell auf Normalmaß schrumpfen.
Wie kann eine Demokratie mit ihren Gegnern fertig werden? Demokratie heißt: Jeder gehört zum demos dazu, zu jenen also, die regiert werden durch sich selbst. Doch dieses Einverständnis wird von rechts untergraben. Die Rechten sagen: Wir wollen unser Land zurück. Alle anderen sagen: Wir wollen unser Land behalten.
Wir dachten, die Demokratie, in der wir so gut und gerne leben, stehe nicht zur Debatte. Jetzt merken wir, wie verwundbar sie ist. Es genügt, dass eine Bewegung der Enttäuschten die Regeln nicht mehr anerkennt. Das beginnt bei den Umgangsformen, die das Gespräch einer Gesellschaft mit sich selbst erst möglich machen, und es endet mit den Tabubrüchen, über die wir uns aufregen – und die die Rechten so geil finden, man kann es nicht anders sagen. Die Redewendung "über ein Stöckchen springen" ist in Mode gekommen, denn die Medien springen ständig über die Stöckchen, die die AfD ihnen hinhält. Das gilt für die Qualitätspresse und die Talkshows ebenso wie für die Shit-Stürmer auf Twitter und Facebook.
Ausschließen statt mitmachen lassen
Gegen den Angriff von Rechts versucht sich die Demokratie mit dem Ritual des Ernstnehmens zu verteidigen. Es ist ein gönnerhaftes Ritual: Wir müssen sie ernstnehmen, die Abgehängten und Frustrierten, als würden sie um unsere Aufmerksamkeit betteln. Dabei ist es umgekehrt: Sie nehmen uns schon lange nicht mehr ernst, sie laben sich an unserer Empörung über die Ausfälle von rechts außen. Was für jede demokratische Partei das Ende wäre, bringt der AfD Zulauf: die Skandale um Höcke und Petry, Gaulands Entgleisungen, Weidels Verlogenheiten – das alles hat der AfD offenbar nicht geschadet.
Sascha Lobo spricht in seiner Spiegel-Kolumne vom "Windrad-Prinzip": Wie ein Windrad lebe die AfD-Sphäre vom Gegenwind, sprich: von der Empörung ihrer Feinde. Wir versorgen die Rechtspopulisten mit Energie, weil wir ihre Tabubrüche der Diskussion als würdig erachten. Erst durch die Empörung der Gegenseite wird es zu einem Skandal, wenn einer Dinge sagt, die man angeblich nicht sagen darf.
Abwinken statt Aufjaulen
Das Gespräch unserer Gesellschaft mit sich selbst funktioniert nicht mehr einfach so. Wenn wir wieder einen konstruktiven Dialog wollen, müssen wir für den demokratischen Diskurs Verantwortung übernehmen. Worüber sind wir bereit, ernsthaft zu reden? Was ist es überhaupt wert, dass wir uns darüber aufregen? Wenn ich sage: "Auf Hitler muss man wieder stolz sein dürfen", wird mich hoffentlich niemand in eine Talkshow einladen, egal von welcher Partei ich bin. Wer sich nicht an die Regeln hält, darf nicht mitspielen, sonst gerät das Spiel als solches in Gefahr. Was auf jedem Fußballplatz selbstverständlich ist, gilt auch für die Demokratie: Die AfD darf nicht zur Normalität werden. Denn wenn die Rechte normal geworden ist, hat sie das Spiel gekapert und bestimmt die Regeln.
Wie kommen wir aus dieser Nummer wieder heraus? Indem die Medien Schluss machen mit dem Ernstnehmen inszenierter Tabubrüche, und indem wir alle darauf verzichten, die Aufreger weiterzugeben, auch wenn uns Medienjunkies das schwer fallen mag. Jeder Widerstand nährt das, wogegen er sich richtet. Warum den Rechtspopulisten nicht einfach den Stecker ziehen? Abwinken statt aufjaulen. Soll Gauland doch entsorgen und jagen, wen er will! Wenn ihn niemand mehr ernst nimmt, schrumpft der Scheinriese zu einem keifenden Zwerg. Den werden auch seine Anhänger nicht mehr ernst nehmen.